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Vom Verlust der Hybris

Uraufführung von Edgar Reitz' „Die zweite Heimat“ im Münchner Prinzregententheater  ■ Von Robert Fischer

Bei den Filmfestspielen in Venedig fing man früher an, dafür war das Tagespensum der Journalisten in München größer und die Sache folglich eher beendet: Edgar Reitz' Mammut-Opus „Die zweite Heimat“ feierte an zwei Orten gleichzeitig Premiere. Der Termin am Lido war seit langem gebucht (schon die erste „Heimat“ war dort vor acht Jahren das große Ereignis), auf die Aufführung in München mochte man trotzdem nicht verzichten, denn „Die zweite Heimat“ ist nicht nur die „Chronik einer Jugend“, wie es im Untertitel heißt, sondern entwirft über weite Strecken auch ein Portrait Münchens — und vor allem Schwabings — in den sechziger Jahren.

Generalintendant August Everding, für kulturelle Experimente immer zu haben, stellte sein ehrwürdiges Prinzregententheater, das flugs in ein Kino umgerüstet wurde, vier Tage lang, vom 5. bis zum 8.September, den Filmfreunden zur Verfügung, und alle kamen, trotz der statistischen Drohungen in der Einladung: Nahezu 26 Stunden Film, neun Pausen, sechs Mahlzeiten. Das sprenge, wie Everding am ersten Abend anerkennen mußte, selbst die Dimensionen von Wagners „Ring“. Und wer dem Unternehmen zunächst mit Skepsis gegenüberstand und geneigt war, die Filmpremiere in diesem unerhörten Rahmen als typisch Münchner Schickimicki-Großkotz- Kultur-Insider-Feier zu prognostizieren, mußte sich bald korrigieren: „Die zweite Heimat“ steht der ersten „Heimat“ in nichts nach, übertrifft sie vielleicht noch, erweitert sie zu etwas, das man ohne Angst vor Pathos ein Jahrhundertwerk nennen kann, und so war es einzig und allein der Film, der im Mittelpunkt dieser Veranstaltung stand. Man erlebte das, was niemand mehr für möglich gehalten hätte: Begeistert, erstaunt, gefesselt, bewegt jubilierte das Publikum.

Wie lange gab es das nicht mehr? Vielleicht seit „Heimat“ vor acht Jahren... „Die zweite Heimt“ beginnt in Schabbach, jenem Dörfchen im Hunsrück, das in den elf Teilen des ersten „Heimat“-Zyklus die Mitte der Welt darstellte. Mit Klärchens Abschiedsbrief an das 16jährige Hermännchen nimmt Reitz einen der vielen Fäden, die er in „Heimat“ geknüpft hatte, auf, läßt den musisch begabten Jüngling nach seiner gewaltsamen Trennung von der ersten Liebe ein dreifaches Gelübde ablegen, geht mit ihm nach München, das für ihn zur zweiten Heimat wird, und verfolgt seinen Weg und den seiner Freunde über ein ganzes Jahrzehnt, von 1960 bis 1970. Das Konzept ist bestechend: „Die zweite Heimat“ als Fortführung, aber auch als Gegenentwurf zur ersten „Heimat“; statt der Chronik eines deutschen Dorfes von 1919 bis in die Gegenwart (und der damit einhergehenden Neubestimmung der negativ belasteten Begriffe „Heimat“ und „Heimatfilm“) nun die Chronik einer Münchner Studentenclique während der turbulenten Sechziger.

Drei Dinge hat sich der sensible Hermann geschworen, bevor er seine Heimat (sprich den Ort, an dem er aufwuchs) gleich nach dem Abitur verließ: nie mehr Schabbach, nie mehr die Liebe und ein Leben für die Musik. Als er die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule besteht, hängt für ihn der Himmel über München voller Geigen (Reitz setzt die Metapher auf rührende Weise bildlich um), und der zwanzigjährige glaubt fortan an die Wiedergeburt zu Lebzeiten: Bei unserer ersten, biologischen Geburt, sagt, er, kommen wir aus dem Schoß der Mutter; für die zweite, geistige, aus uns selbst, aus unserem eigenen Kopf heraus, sind wir allein verantwortlich. Diese Erkenntnis und das Entdecken seines in der Tat außergewöhnlichen Talents als Musiker und Komponist verwandeln das kleine Hermännchen aus dem Provinznest im Hunsrück in einen selbstbewußten, von sich und seiner Berufung überzeugten Hermann Simon. Im Sprechunterricht versucht er verzweifelt, die letzten Spuren seines Heimatdialekts zu tilgen — Symptom einer jugendlichen Überheblichkeit, die bis zum Ende seines Studiums andauern wird. Hermann weiß, daß er intelligent und begabt ist, er weiß, daß er hübsch ist. Im „Fuchsbau“, einer alten Villa an der Fuchsstraße, die zum Treffpunkt der Schwabinger Boheme wird, ist Hermann schnell der Mittelpunkt. Im Grunde sind es lauter blasierte Schöngeister, mit denen sich Fräulein Cerphal, die etwas überkandidelte Villenbesitzerin, im Fuchsbau umgibt — junge Komponisten und Pianisten, altkluge Möchtegern-Dichter und Westentaschen- Philosophen, Sängerinnen, Cellistinnen, Filmemacher. Aber der Name der Mäzenin signalisiert, anders betont, schon den Zerfall, den Reitz' Filmzyklus seismographisch beschreibt — das Verschwinden der Illusionen, das Verkümmern der Ideale, das Bröckeln der Fassaden, der Verlust der Unschuld und der Hybris. Wie Hermann sich 1960 als Messias der Neuen Musik empfindet und zehn Jahre später Werbefilme elektronisch untermalt, wie Jungfilmer Stefan 1961 den Freunden im Fuchsbau einen Dokumentarfilm über Nazi-Architektur präsentiert und sich 1969 mit Geld aus Hollywood korrumpieren läßt, wie Juan, das Multitalent aus Chile, zu Beginn der Begabteste von allen ist und der sich 1964 das Leben nehmen will, wie der Fuchsbau einem häßlichen Apartmenthaus aus Beton weichen muß, wie Fräulein Cerphal mit der Naz-Vergangenheit ihrer Familie konfrontiert wird, wie Helga an die Veränderung der Gesellschaft glaubt und als Terroristin auf dem Fahndungsplakat landet und wie Hermann fast zum Spießer mutiert und 1970, als er den Rat der Freunde bräuchte, keinen einzigen mehr findet — diese und ein Dutzend weiterer im Grunde todtrauriger, aber nie weinerlicher Geschichten erzählt Reitz.

Das stilistische Spektrum reicht dabei von der prallen Komödie (Folge 5: Hermann wird auf einem Dachboden im westfälischen Dülmen von drei Frauen gleichzeitig verführt) zur asketisch-düsteren Charakterstudie (Folge 10: Filmemacher Reinhard will die Lebensgeschichte der Halbjüdin Esther zu einem Drehbuch verarbeiten).

Mit der ersten „Heimat“ gemein hat der neue Film, daß Reitz, der diesmal allein als Drehbuchautor zeichnet, Historie nicht bebildert, sondern Zeitgeschichte in privaten Geschichten erzählt: Zwar kommen die Münchner Krawalle, die Studentenrevolte, Baader-Meinhof und — am Bildschirm — Kennedys Ermordung und die Mondlandung vor, aber immer nur am Rande oder in dem Maße, wie diese Ereignisse die Hauptfiguren betreffen. Nur so funktioniert es, nur so kann auf überraschend fesselnde und unterhaltsame Weise die „Chronik einer Jugend“ gezeichnet werden, der 68er- Generation.

Nach einem solchen Erlebnis, wie es diese vier Tage im Prinzregententheater darstellten, hat man keine Lust, über einige zu lang geratene Sequenzen, ein paar allzu penetrante formale Extravaganzen, etliche hölzern klingende Dialogpassagen zu mäkeln — das wäre überflüssige Krittelei an dem grandiosen Ganzen, das dieses dreizehnteilige Opus darstellt: 25 Stunden und 35 Minuten lang, gedreht im Format 35mm, 1:1, 66, Stereo-Lichtton (mithin auch rein technisch gesehen Kino und nicht Fernsehen!), 71 Darsteller, 310 Kleindarsteller, sieben Jahre in Arbeit, davon vier Jahre Dreharbeiten — das sind beeindruckende Fakten, die sich auf der Leinwand samt und sonders auch qualitativ niederschlagen.

Die Hauptrollen haben Reitz und sein engster Mitarbeiter Robert Busch mit lauter neuen, hochinteressanten Gesichtern besetzt. Bei einigen dieser jungen Schauspieler ist das musische Talent (jedes Singen oder Spielen ist „on“ aufgenommen, nichts wurde nachsynchronisiert) zwar größer als das schauspielerische, aber von Henry Arnold, dem Darsteller des Hermann, wird man in Zukunft garantiert noch einiges hören. Die Kamera — vor allem die von Gernot Roll (Folgen 1 bis 5) —, Nicos Mamangakis' Musik und Franz Bauers Ausstattung sind schlicht und einfach überragend. Wie oft hat man genörgelt: wenn es doch wenigstens einen guten deutschen Film im Jahr gäbe! Jede der 13 Folgen von „Die zweite Heimat“ ist abendfüllend. Das sollte für die nächste Zeit reichen.

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