: Voyeur des Fin de siècle
■ Vallotton-Retrospektive in Amsterdam
Kaum einer Künstlergruppe des klassischen Moderne wurde in den zurückliegenden Jahren so viel museale Aufmerksamkeit zuteil wie den „Nabis“. Ausstellungen in Europa und den Vereinigten Staaten würdigten mit Edouard Vuillard, Maurice Denis und Pierre Bonnard jene Maler, die sich selbst in der Tradition Paul Gauguins sahen und der impressionistischen Farbauflösung die Einheit der farbigen Fläche entgegensetzen wollten. Daß sie sich hierfür nicht allein der repräsentativen Tafelmalerei bedienten, zeigte zuletzt eine großangelegte Werkschau in Paris.
Felix Vallotton blieb dabei meist außen vor. Zwar war er auch in allen Nabis-Ausstellungen vertreten; die letzte internationale Retrospektive seiner Werke liegt aber inzwischen 13 Jahre zurück. Das starke politische Bewußtsein des gebürtigen Schweizers, der mit 17 Jahren nach Paris zog, mag dabei eine Rolle gespielt haben. Im Zeitalter der aufkommenden Massenmedien begriff er seine Kunst auch als Transportmittel für politische Äußerungen. Vallotton zeigte Sympathie für die anarchistische Bewegung in Paris und übte deutliche Kritik an den staatlichen Reaktionen durch Polizeigewalt. Die Arbeit als Illustrator für die populäre Zeitschrift La revue blanche der Gebrüder Nathanson trug zur weiten Verbreitung seiner Graphiken bei.
Eine opulent ausgestattete Vallotton-Retrospektive zeigt noch bis Anfang November das Rijksmuseum Vincent van Gogh in Amsterdam. Die in den USA von der Vallotton- Expertin Sasha M. Newman zusammengestellte Werkschau, die zuvor in New Haven, Houston und Indianapolis zu sehen war, legt ihren Schwerpunkt auf die beiden so gegensätzlichen Sujets, mit denen er sich vor allem vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder gleichzeitig auseinandersetzte. Vallotton, vor allem in den großformatigen Gemälden ständig zwischen den symbolistischen Einflüssen der Jugendstilbewegung und der beginnenden neuen Sachlichkeit hin und her schwankend, widmete sich dem privaten Leben so intensiv wie dem öffentlichen.
Gerade in seinen in Amsterdam ausführlich dokumentierten Holzschnitten beschreibt der Graphiker handwerklich vollendet die sozialen und politischen Mißstände seiner Zeit („Pariser Menge“), um sich in der „Interieur“-Serie nur wenig später der scheinbaren Vergeblichkeit der menschlichen Liebe zuzuwenden („Die Lüge“). Die Straße und das Wohnzimmer bilden für Vallotton kein Gegensatzpaar. Als einer der großen Voyeure des Fin de siècle weiß er die beiden Räume gerade in seinen graphischen Arbeiten mit sparsamsten künstlerischen Mitteln zu füllen.
Der Erste Weltkrieg unterbrach das international gestiegene Interesse an Vallottons Werk abrupt: Sein Erfolg im verfeindeten Deutschland und in Österreich machte ihn in Frankreich unpopulär, seine satirischen druckgraphischen Arbeiten gegen den deutschen Militarismus bedeuteten nach dem Krieg das Ende der Verkaufsmöglichkeiten im Deutschen Reich. Finanziell nicht mehr gutgestellt, litt bald auch Vallottons Gesundheit, und die zunehmende Scheuheit des Künstlers isolierten ihn schließlich auch von seinen alten Freunden. Felix Vallotton starb einen Tag nach seinem 60.Geburtstag im Dezember 1925 in Neuilly-sur- Seine. Stefan Koldehoff
Rijksmuseum Vincent van Gogh, Amsterdam, bis 1. November 92.
Musée cantonal des Beaux Arts, Lausanne, 21.11. 92 bis 31.1. 93
Katalog: 328 Seiten mit 315 Farb- und s/w-Abbildungen. Abbeville Press, New York, Paperback, rund 60 DM.
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