Oper ohne Orchester

■ »Neuköllner Oper«: Künstlerischer Leiter Radeke droht mit Kündigung

Wieviel Opernhäuser gibt es in Berlin? Zumindest mal zwei in Mitte, eines in Charlottenburg und noch eines in Neukölln. Zwischen ihnen liegen allerdings Welten. Was den ersten drei Häusern nicht einmal zur Kostümausstattung reicht, muß der »Neuköllner Oper« zur Finanzierung einer ganzen Spielzeit genügen. Sicher: Ihr künstlerisches Konzept ist ein anderes. Den Ernst, mit dem die großen Häuser ihre aufwendigen Opern inszenieren, maßt sich die kleine Operngruppe gar nicht erst an, eher fühlt sie sich zuständig für musikalische Spielereien und Experimente mit geringsten Mitteln. Denn schon der Finanzlage wegen muß die Unterhaltung im Vordergrund stehen.

Nach vier Jahren, in denen die Finanznot immer groß war, droht der künstlerische Leiter der Neuköllner Oper, Winfried Radeke, nun damit, das Handtuch zu werfen. Dabei waren die Hoffnungen groß, als die 1977 gegründete freie Theatergruppe 1988 erstmals eine feste Spielstätte bekam. 1979 erhielt sie eine Geldspritze von 50.000 Mark, von der die Gruppe eine Fabriketage als Probenbühne mieten und zwei Klaviere kaufen konnte. Die Wanderschaft durch Berliner Kirchen und diverse Säle in Neukölln, Kreuzberg und Wedding wurde bis vor vier Jahren fortgesetzt. Große Euphorie dann 1988 beim Einzug in das feste Haus an der Karl-Marx- Straße.

Sechs neue Stücke gab's und ein Publikum, das das kleine Musiktheater freudig annahm. Doch die finanzielle Misere folgte schnell. Der Schuldenberg begann sich zu türmen, das Haus konnte nun höchstens noch zwei neue Produktionen pro Jahr zeigen. Ein Orchester war seit 1989 undenkbar, der Chor blieb auf ein Quartett reduziert. Etwa 400.000 Mark erhielt die Gruppe jährlich vom Senat, den Löwenanteil davon verschlangen Miete und Betriebskosten.

War der Idealismus des jetzt 51jährigen Winfried Radeke also zu groß? Oder waren der Bezirk Neukölln und der Kultursenat Berlin zu halbherzig, als sie der Neuköllner Oper zwar ihr Leben schenkten, aber nicht genügend Milch? Die Opernleitung beschloß 1991, mit der »Gans von Kairo« in Schönheit zu sterben. Doch eigenwillige Spender konnten sie noch einmal retten.

Auch der Senat hatte sich Gedanken gemacht: »Optionsförderung« heißt das neue Zauberwort für die Finanzierung der freien Gruppen. Den bisherigen Sondertopf, aus dem auch die Neuköllner Oper gespeist wurde, löste man auf. Statt dessen wurde ein neues Fördersystem eingerichtet, das allen Erfolgreicheren der freien Gruppen jeweils eine dreijährige Finanzspritze sichert. Der Senat delegierte seine Verantwortung — wie ehedem — auf den Beirat für die freien Gruppen, der selbständig über die Geldverteilung zu entscheiden hat. Aber auch der unabhängigste Beirat kann mit wenig Geld nicht viel verteilen. Und über die Größe des Subventionstopfes hat nun mal allein der Kultursenator zu entscheiden. Wenn sich Roloff-Momin nun vor der Presse gerne den Anschein gibt, der Finanzbescheid des Beirats sei nicht ganz in seinem Sinne und die Neuköllner Oper liege ihm sehr wohl am Herzen, dann trügt der Schein. Denn bei einer von ihm festgesetzten Gesamtsumme von 4 Millionen Mark für immerhin zehn förderungswillige Theater kann für niemanden genug übrigbleiben.

Die Neuköllner Oper wird dieses Jahr 450.000 Mark Fördermittel erhalten, im letzten Jahr waren es 409.000 Mark. Davon schlucken Miete und Betriebskosten schon 300.000 Mark. Winfried Radeke hat seinen Mut verloren. Verbittert und enttäuscht hat er seinen Rücktritt zum Sommer 1993 angekündigt. Auf Drängen der Referatsleiterin für freie Gruppen, Barbara Esser, wird er mit seiner Kündigung allerdings noch bis zum Jahresende warten. Bis dahin werde sich entscheiden, ob die Neuköllner Oper nicht doch noch zusätzliche Gelder über die Spielstättenförderung erhalten könne. Radeke hebt dazu nur noch müde die Augen. Ihn bedrückt vor allem der angesichts der Geldnot unabänderliche »künstlerische Tiefgang« seines Theaters. Das Theaterpublikum nehme kaum wahr, daß die finanzielle Misere so gut wie keinen Handlungsspielraum ließe.

Wie groß die Möglichkeiten noch sind, werden Radeke und sein Regisseur Peter Lund in ihrer Uraufführung von »Der Spielverderber« am 24.September zeigen. Das Melodram versucht, eine Operetteninszenierung im Dritten Reich kritisch nachzuvollziehen. Musikalisch wird die fiktive Geschichte mit Ohrwürmern von Peter Schröder begleitet. Es gehe neben dem Thema Faschismus außerdem darum, die schlüpfrige Biedermeierlichkeit der vierziger Jahre ironisch darzustellen, erklärte am Montag Regisseur Lung, während Radeke vor allem für das »Swingen« in der Musik Schröders schwärmte. Ein Orchester wird es auch diesmal nicht geben, auch keinen Chor. Vier Flügel und ein Quartett müssen genügen. Nathalie Wozniak

»Der Spielverderber« ab dem 24. September um 20 Uhr in der Neuköllner Oper, Karl-Marx-Straße 131-133