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Wenn Demokratie zum Alptraum wird

■ Beim Impeachment-Prozeß von Brasiliens Präsident Collor de Mello quält eine korrupte Minderheit die Mehrheit der Bevölkerung. Der Stoff ist reif für eine Farce. Collor, dem Volk entrückt, wäre froh über ein neues. Und letzteres will einen anderen König. AUS RIO ASTRID PRANGE

Brasilien liegt am Boden, und Präsident Fernando Collor de Mello triumphiert. Während zwischen den drei Regierungsgewalten ein juristischer Krieg um seine bevorstehende Amtsenthebung tobt, widmet er sich in aller Seelenruhe der Bildung eines künftigen Kabinetts. Denn das „Impeachment“ wird spurlos an ihm vorübergehen, davon ist Präsident Collor überzeugt. Die Enthüllungen der Parlamentarischen Untersuchungskommission (CPI), die dem Staatsoberhaupt Bestechlichkeit und Bereicherung auf Kosten des brasilianischen Steuerzahlers nachwiesen (die taz berichtete), scheinen heute gegenüber den Verfahrensfragen des „Impeachment“-Prozesses zweitrangig zu sein.

Die wichtigste Frage wird in der kommenden Woche entschieden. Am nächsten Mittwoch will der Oberste Gerichtshof (STF) in der Hauptstadt Brasilia sein Urteil über die Art der Abstimmung des „Impeachments“ im brasilianischen Parlament verkünden. Verläuft die Abstimmung namentlich und offen, sänken die Chancen von Präsident Collor, das „Impeachment“ abzuschmettern, auf ein Minimum. Verliefe die Abstimmung geheim, stiegen die Aussichten der Regierung, unentschlossene Abgeordnete in letzter Minute für sich zu gewinnen. Laut Gerüchten im brasilianischen Kongreß stehen Collor für den Stimmenkauf rund eine Milliarde Dollar zur Verfügung.

Die Angst der Opposition, die obersten Verfassungshüter könnten zugunsten Collors urteilen, sorgt im brasilianischen Kongreß für Hochspannung: „Was für eine Teufelsgewalt ist das, die nicht festlegen kann, wie im eigenen Haus abgestimmt wird“, empört sich Ulysses Guimaraes, ältester Abgeordneter des brasilianischen Parlaments. Für den Vater der brasilianischen Verfassung von 1988 ist die Entscheidung über die Art der Abstimmung des „Impeachments“ einzig und allein Angelegenheit des Kongresses.

Dem Obersten Staatsanwalt Aristides Junqueira gelang es am Dienstag noch, die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. In seiner Empfehlung an die Verfassungshüter sprach er sich für die offene Wahl aus. Normalerweise pflegen die Richter des STF den Empfehlungen des Staatsanwaltes zu folgen.

Staatsanwalt Aristides Junqueira, bisher für seinen außerordentichen Einsatz zugunsten der bedrohten Yanomami-Indianer bekannt, verwandelt sich zunehmend in einen nationalen Hoffnungsträger. Denn in seinen Händen liegt der strafrechtliche Prozeß gegen Präsident Collor, der parallel zum politischen Verfahren der Amtsenthebung im Kongreß läuft. Junqueira ließ Präsident Collor gestern einen Fragebogen zukommen, den er innerhalb von 15 Tagen beantworten muß. Erst danach kann der Oberste Staatsanwalt Strafanzeige gegen den Präsidenten Brasiliens erstatten.

Junqueira läßt keine Zweifel daran aufkommen, daß er Collor für schuldig hält. „Es gibt konkrete Hinweise für verbrecherisches Verhalten seitens des Präsidenten von Brasilien, doch die Normen des Verfahrens müssen eingehalten werden“, erklärte der Staatsanwalt nach der Lektüre von mehreren Tonnen belastenden Materials, Ergebnis der Recherchen der Untersuchungskommission und der brasilianischen Bundespolizei. Sollte Junqueira Collors Antworten für unbefriedigend halten und Strafanzeige gegen ihn erstatten, wird Collor umgehend seines Amtes enthoben. Die für Ende September geplante „Impeachment“-Abstimmung im Parlament wäre damit obsolet.

Collors angestrengter Optimismus gleicht angesichts dieser düsteren Aussichten dem kurzfristigen Triumph eines Todgeweihten. Collor klammert sich daran, daß er noch nicht einmal 168 Stimmen, also ein Drittel der Parlamentarier, braucht, um seiner Amtsenthebung zu entkommen. Es reicht, wenn er die notwendige Zweidrittelmehrheit von 336 Stimmen unterläuft, in dem er einige unentschlossene Abgeordnete davon überzeugt, nicht zur Abstimmung zu erscheinen.

„In diesem Fall würde ein Drittel der Abgeordneten, oder mit anderen Worten, die Hinterwäldler Brasiliens, der Mehrheit der Bevölkerung ihren Willen aufzwingen. In dieser vom Zynismus beherrschten Gesellschaft entsteht der fruchtbare Nährboden für selbsternannte Retter des Vaterlandes“, beschreibt der Politikwissenschaftler Leoncio Martins Rodrigues, Professor an der brasilianischen Universität Unicamp im Bundesstaat Sao Paulo, die düstere Zukunft des Landes.

Der Glaube an die Macht der Mehrheit hat sich schon einmal als Illusion erwiesen. Nach dem überraschenden Tod des ehemaligen Präsidenten Tancredo Neves im Jahr 1985 gingen mehrere Millionen Brasilianer auf die Straße, um die auslaufende Militärdiktatur durch direkte Neuwahlen vorzeitig zu beenden. Doch die beeindruckenden Massenproteste bewirkten nichts: Vizepräsident Jose Sarney dachte nicht daran, freie Wahlen auszuschreiben, sondern regierte das Land bis zu Collors Amtsantritt im März 1990.

Viele der Parlamentarier, Kirchenvertreter, Gewerkschaftler, Anwälte, Unternehmer, Studenten und Bürgerrechtler, die damals die Kampagne für die freien Wahlen organisierten, gehören heute der nationalen Bewegung für Ethik an, die Collors Amtsenthebung fordert. Die Enttäuschung über ihre Ohnmacht haben die ehemaligen Kämpfer noch nicht vergessen.

Die nationale Bewegung für Ethik hat für die nächsten zwei Wochen eine Reihe von Demonstrationen organisiert. Die wichtigste Kundgebung gegen Collor ist für diesen Freitag in Sao Paulo geplant. Rund eine Million Menschen werden erwartet. Brasiliens größte und kämpferische Gewerkschaft, CUT, der Vorsitzende des Industrieverbands von Sao Paulo, Mario Amato, der Gouverneur von Sao Paulo, Luis Antonio Fleury, Bürgermeisterin Luiza Erundina sowie zahlreiche Politiker verschiedener Parteien werden sich am 18. September in Sao Paulo das Podium gegen Collor teilen.

Die politische Opposition im Nachbarland Argentinien hofft, daß die brasilianische Protestwelle nach Buenos Aires überschwappt. Die argentinische Arbeiterpartei schickte der brasilianischen Gewerkschaft CUT kürzlich ein Solidaritätstelegramm und kündigte gleichzeitig eine Kundgebung für den 19. September in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires an. Leitspruch: „Collor raus, Menem und Cavallo hinterher“ (Anm. d. Red.: Domingo Cavallo ist der argentinische Wirtschaftsminister).

„Es gibt keine Regierung mehr. Nur noch First Lady Rosane und drei Musketiere, Sozialminister Ricardo Fiuza sowie die Staatsbankiers Lafaiete Coutinho und Alvaro Mendonca, sind auf Collors Seite“, konstatiert Leitartikler Marcelo Pontes, der täglich in der Rio-Zeitung Jornal do Brasil schreibt. Die Phalanx Collors politischer Gegner umfaßt mittlerweile alle organisierten Kräfte der brasilianischen Gesellschaft: Kirche, Unternehmer, den Verband der Rechtsanwälte (OAB), Gewerkschaften, die Studentenbewegung, das Beamtentum, Intellektuelle und Universitäten, die Medien und sogar Teile des brasilianischen Militärs.

Leitartikler Pontes befürchtet eine Radikalisierung des politischen Klimas. „Das Land wird das von der Regierung betriebene Spiel juristischer Spiegelfechterei und technischer Verfahrensfragen des Impeachments nicht mehr lange mitmachen“, warnt er. Eine Umfrage der Tageszeitung Folha de Sao Paulo gibt ihm recht. Gegenüber dem vergangenen Jahr hat sich die Stimmung radikal geändert. Knapp 40 Prozent der Brasilianer schämen sich mittlerweile für ihren Präsidenten. Vor einem Jahr noch vertraute die Mehrheit der Wähler auf ihr Staatsoberhaupt. Der Grund für die nationale Unzufriedenheit war nicht der Präsident, sondern die grassierende Armut im Land.

Unterdessen richtet sich die politische Aufmerksamkeit zunehmend auf Vizepräsident Itamar Franco. Der unscheinbare Eigenbrötler ist der Inbegriff eines Anti-Collors. Im Gegensatz zum Präsidenten verabscheut der 62jährige Vize jede Art von politischem Rummel, erfolgreiches Marketing und wirkungsvolle öffentliche Auftritte sind für ihn ein Buch mit sieben Siegeln.

„Itamar ist ein ehrlicher Politiker, der vehement für seine Überzeugungen eintritt“, heißt es in einer Studie über den Vize, die von dem brasilianischen Industrieverband FIESP in Auftrag gegeben wurde. Trotz seiner nationalistischen Thesen sei von Itamar kein radikaler Kurswechsel der bisherigen Wirtschaftspolitik zu erwarten. Die neoliberale Politik der Marktöffnung und Privatisierung würden fortgesetzt, allerdings mit geänderten Spielregeln.

Itamar Franco hat bereits angekündigt, daß er bei der Privatisierung brasilianischer Staatsunternehmen künftig keine Schuldentitel, die auf dem Sekundärmarkt für ein Drittel ihres nominellen Wertes gehandelt werden, mehr als Zahlungsmittel zulassen wird. Außerdem will er die Entscheidung über die Privatisierung umstrittener Staatsunternehmen dem brasilianischen Kongreß überlassen. Ansonsten gilt es als sicher, daß er die Inflation nicht weiterhin mit rezessiver Wirtschaftspolitik bekämpfen wird, sondern alles darandaran setzen wird, die Konjunktur wieder anzukurbeln.

Dem brasilianischen Volk scheint die Wirtschaftskrise mittlerweile zweitrangig zu sein. Die Wut über die Institutionalisierung der Korruption im Land hat ein unersättliches Bedürfnis nach Selbstreinigung ausgelöst. Fast täglich wird im Kongreß ein neuer Untersuchungsausschuß eingerichtet, der Fiskus läßt Bankkonten von Ministern und ehedem omnipotenten Unternehmern durchforsten, die Bürgermeisterkandidaten bei den bevorstehenden Gemeindewahlen am 3. Oktober beeilen sich, die Finanzierung ihrer Wahlkampfkampagnen offenzulegen.

Brasilien steht kopf. „Eines Tages wird Brasilien eine echte Nation sein“, meint Senator Jose Bisol, Mitglied der CPI, die die Säulen der Korruption ins Wanken brachte, zuversichtlich. „Wenn Collor abgesetzt wird, steigt das brasilianische Selbstbewußtsein“, garantiert Antropologe Gilberto Velho. Die Hoffnung, einen Präsidenten nicht nur wählen, sondern auch abwählen zu können, hilft vielen Brasilianern, ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten vorübergehend zu vergessen. Brasilien ist schon wieder das Land der Zukunft.

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