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Anderssein

In einer Zeit, in der die alten Kategorien von Gut und Böse, Richtig und Falsch nicht mehr passen, weil alles viel komplizierter, viel differenzierter, viel undurchschaubarer geworden ist, da fällt manchmal die Orientierung schwer. Wie leicht gerät schon die Utopie von einer menschlicheren Welt in den Papierkorb, weil wir doch sehen müssen, was machbar ist. Menschlichkeit scheint nicht mehr machbar zu sein. Menschenwürde gerät zu einem Luxusartikel, den sich unsere „zivilisierte Kultur“ anscheinend nicht mehr leisten kann. Fragt noch einer danach, wo wir mit dieser Art von Zivilisation landen werden? [...]

Der Haß, den wir nun schon regelmäßig ins Wohnzimmer geliefert bekommen, macht mich hilflos. Ich überlege, was ich diesen Jugendlichen, den Eltern und Nachbarn sagen könnte, wenn ich ihnen gegenüberstünde. Aber da ist nur der Schmerz und die Angst, ihnen tatsächlich gegenüberzustehen, ihnen ausgeliefert zu sein. Wie kommt es, daß es für diesen Haß, der sich da breitmacht, der wie eine Lawine ins Rollen gekommen ist, so viel Verständnis gibt, daß das Verständnis für die Randale allemal größer scheint als die Empörung darüber, wie mit Menschen, die Schutz suchen und Hilfe brauchen, umgegangen wird? Wie kommt es, daß Politiker (und nicht nur sie) Opfer zu Tätern machen können — und nicht zurücktreten müssen? Haben wir die Politiker, die wir verdienen?

Noch mehr macht angst. Festzustellen ist eine zunehmende Abgrenzung und Abwehr gegen Anders- sein, gegen das, was fremd erscheint (und oft genug nur deshalb fremd ist, weil wir damit nichts zu tun haben wollen). Wer nicht der Norm entspricht, stört, gehört nicht dazu, weg, aus den Augen — besser noch abgeschafft. Plötzlich kehren sich die Maßstäbe um: Menschenverachtung scheint erlaubt aus Angst vor dem Fremden. Die Unfähigkeit, mit Unsicherheit umzugehen, wird zum Anlaß genommen, das „Objekt“ der Unsicherheit zu beseitigen.

Es gibt viele kleine Hoyerswerdas, Rostocks, Eberswaldes. Nicht im Fernsehen, nicht so spektakulär, aber sie machen genausoviel Angst: Da wird die Laube eines Schrebergartens, den drei behinderte Menschen pachten wollen, angezündet, der Pachtvertrag mit allen Mitteln verhindert — bis der Schrebergarten wieder „behindertenfrei“ ist.

Da kann während einer Tagung zum Thema Bioethik ein Theologe einer behinderten Frau öffentlich ins Gesicht sagen, daß er zwar ihr Referat toll findet, aber ihren Anblick beim Essen nicht ertragen kann. [...] Da will eine Gruppe mit behinderten Kindern auf dem Freizeitgelände eines Behinderten-Sportverbandes Urlaub machen und muß gehen — ihr Anblick sei nicht zu ertragen.

Da werden behinderte Neugeborene zum Sterben „liegengelassen“ — ihr Leben bedeute nur Leid. Da gelten behinderte Menschen als „egoistisch“ (so eine Berliner Philosophin), wenn sie lieber behindert als gar nicht leben wollen. Da gelten behinderte Menschen als „undemokratisch“, weil sie sich gegen die Diskussion ihres Lebensrechts wehren — „Meinungsfreiheit“ scheint wichtiger als das Lebensrecht behinderter Menschen.

Da ist eine Verachtung und Ausgrenzung, für die es, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, eine schweigende Mehrheit gibt. Ich habe Angst vor der Selbstverständlichkeit, mit der Anderssein ausgegrenzt werden darf, Angst vor der Selbstverständlichkeit, weiß, deutsch und leistungsfähig zu sein, Angst davor, wer in diesem Deutschland der Zukunft noch Platz haben wird. Ursula Aurien, Berlin

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