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ESSAYNoch nicht begriffen

■ Der Rassismus läßt sich mit Knüppeln und Paragraphen nicht austreiben

Rostock kam zu früh. Eigentlich waren die Moralpredigten der Politiker, Leitartikler und Kirchenmänner erst zum 25.September geplant — zum ersten Gedenktag an Hoyerswerda. Wir erinnern uns noch allzugut an die dröhnenden Gelöbnisse der Parteisprecher und Staatssekretäre, an das Aufheulen der Kommentatoren, nachdem böse deutsche Jugendliche auf Asylbewerber losgegangen waren und brave deutsche Bürger heftig applaudiert hatten. Von Schuld war die Rede und von Schande. Der Innenminister empfand gar „ein ganzes Stück weit Scham“.

Das bißchen Scham war schnell im Schlamm der Asylschlacht erstickt. Die Deutschen, erklärte der Kanzler zur nationalen Selbstberuhigung, seien auch nicht anders als die anderen.

Die Fingerzeige auf die Nachbarn machten es leichter, sich an den Terror im eigenen Land zu gewöhnen. Seit Hoyerswerda wurden Tag für Tag Asylbewerber schikaniert und angefallen. Doch die Politik- und Meinungsmacher schreckten erst wieder auf, als im Frühjahr fast eine dreiviertel Million Deutsche jene längst abgeschriebenen Parteien in die Landtage von Stuttgart und Kiel wählten, die ganz unverhohlen gegen Ausländer hetzen.

Nun also Rostock: Ein Schock, ein Aufschrei, die Grundfeste der Republik erzittern. Es hagelt wieder Schuld und Scham und Schande. Die allgemeine Panik hat mit dem beharrlichen Wegschauen zu tun, das lange vor Hoyerswerda schon eingeübt wurde, sie ist eine Art Überkompensation der Gleichgültigkeit.

In den Zeiten des unbegrenzten Wachstums und wuchernden Wohlstands konnte man die „rechten Spinner“ getrost an den Stammtischen herumnörgeln lassen; es war ja genug Mammon für alle da. Als der Aufstieg der Schönhuberisten begann, beruhigte man sich mit der Demoskopen-Weisheit, ein paar Protestwähler und Politikverdrossene hätten den verkalkten Parteien nur einen Denkzettel verpassen wollen; beim nächsten Urnengang werde der Spuk wieder vorbei sein. Und als die Gewalt von rechts zunahm, tat man alle Warnungen als graue Theorie wichtigtuerischer Jugendsoziologen ab; es handele sich lediglich um ein paar entwurzelte Halbstarke, die nur eine ordentliche Arbeit und einen rechten Lebenssinn brauchen.

Jetzt starren die Verharmloser und Wegschauer schreckensbleich auf die Werke dieser Halbstarken und den Mob, der sie in Rostock und anderswo beklatscht. Jetzt erinnern sie an die Regeln der Zivilität, an die Gebote der Toleranz, an den ersten Artikel im Grundgesetz, der von der Unantastbarkeit der Menschenwürde spricht. Jetzt geht ihnen plötzlich ein Wort über die Lippen, das bislang tabu war: Rassismus.

Nein, es geht nicht um Verharmlosung — um etwas zu verharmlosen, muß man es ja zunächst wahrnehmen. Es geht um den Wirklichkeitsverlust. Denn wer dem Volk aufs Maul schaute, wer die Untertöne in den U-Bahn-Gesprächen, Bier-Debatten und Witzen heraushörte, dem konnte schwerlich verborgen bleiben, wie sich die Aversionen gegen alles Fremde, Undeutsche bis zum verbalen Totschlag steigerten.

Immer mehr Bürger empfinden immer weniger Skrupel, wenn die entfesselte Jugend auf Ausländer eindrischt. Immer mehr Bürger beten die Haßparolen der Rechtsextremen nach: „Deutschland zuerst, Ausländer raus!“ Die „Asylanten“, heißt es, seien doch an ihren „Schwierigkeiten“ selber schuld: Sie überfluten und durchrassen uns, sie klauen unsere Autos, sie wollen sich nicht anpassen, sie belästigen Frauen und machen Kinder rauschgiftsüchtig, sie scheißen in unsere Grünanlagen.

Natürlich will niemand, daß kleine singhalesische Mädchen durch Benzinbomben lebensgefährlich verletzt und zeitlebens entstellt, daß Vietnamesen mit Baseballschlägern die Köpfe zertrümmert, daß Afrikaner aus fahrenden Trambahnen gestoßen werden. Aber wenn es dann zum Schwur kommt, erinnert sich der Pöbel schon mal an die altbewährte Endlösung. „Das Asylantenpack muß weg“, erklärte neulich ein sittsamer Familienvater am Brotzeit- Tisch, „wir müßten nur unsere Öfen wieder anheizen.“

In den oberen Etagen der Gesellschaft, dort wo die Gebildeten und Begüterten wohnen, hat man sich ein paar Erklärungsmuster für solche Einstellungen zurechtgestrickt. Muster eins: Die Fremdenfeindlichkeit sei ein Phänomen, das vor allem in den unteren Schichten auftrete, also bei Menschen, die fürchten, im Konkurrenzkampf mit Einwanderern ihre Arbeitsplätze und Wohnungen zu verlieren. Politikwissenschaftler haben ihnen das Etikett „Modernisierungsverlierer“ aufgeklebt. Dieser Ansatz ist nicht falsch, erfaßt aber nur die halbe Wahrheit. Gehört etwa der Elektronik-Lehrling bei Siemens, der nach Feierabend im Computerspiel Türken vernichtet, zu den Modernisierungsverlierern?

Muster zwei: Der Fremdenhaß wuchere hauptsächlich in den neuen Bundesländern, er sei eine Folge der Zukunftsängste und Identitätskrisen der „Ossis“. Die empirischen Tatsachen wollen indes zu dieser Hypothese nicht passen. In Umfragen bekunden die Westdeutschen mehr Verständnis für rechtsradikale Tendenzen als ihre Brüder und Schwestern in der früheren DDR.

Wer erwartet oder zumindest gehofft hatte, nach Rostock würde endlich eine große öffentliche Debatte über die tieferen Ursachen des Rassismus einsetzen, sieht sich bislang bitter enttäuscht: Das erbärmliche Geplänkel um den Artikel 16 des Grundgesetzes geht munter weiter, und die populistischen Marktschreier, die seine Ergänzung oder Streichung fordern, tun nach wie vor so, als versiegte durch diesen Gesetzesakt der Flüchtlingsstrom und mit ihm der Fremdenhaß. Wieder wird eine Gelegenheit verpaßt, offen und ehrlich über neue Strategien zu streiten, wie der Immigrationsdruck vermindert und gesteuert werden könnte, über die realen und eingebildeten Ängste der Bevölkerung, über die „Bewohnbarkeit“ der Republik (Enzensberger).

Derweil illuminieren Feindbilder und Katastrophengemälde die politischen Debatten im vereinten Deutschland. Sie gehören zum demagogischen Arsenal der Rechtsradikalen. Aber auch Konservative und sogar SPD-Bürgermeister schießen an der verbalen Heimatfront aus allen Rohren. So kommen sich die Kontrahenten auf der Jagd nach Stimmen allmählich näher: Die Rechte rückt zur Mitte, die Mitte rückt nach rechts, und ganz nebenbei wird die Fremdenfeindlichkeit zur Normalität.

Der rechte Terror wird von den Emotionen aus der Mitte der „Gesellschaft“ gespeist. Die Gewalttäter glauben, den Willen der schweigenden Mehrheit zu vollstrecken, solange sie mit Beifall auf offener Szene rechnen können: Das Volk denkt es, wir tun es. Umgekehrt spiegeln ihre Verbrechen die Gewaltphantasien der Claqueure.

In den Ministerien, Kanzleien und Redaktionen rufen die Hüter des Rechtsstaates nach schlagkräftigen Polizeitruppen, strengeren Gesetzen, härteren Strafen — schließlich ist die Demokratie bedroht und das Ansehen Deutschlands in aller Welt.

Aber selbst wenn man Bürgerkriegsarmeen auffahren (wie seinerzeit in der Hafenstraße oder Wackersdorf) oder eine Abart des Ausnahmezustands verhängen würde (wie damals, im deutschen Herbst, als die linken Wohngemeinschaften durchwühlt wurden): der allgegenwärtige Rassismus läßt sich mit Knüppeln und Paragraphen nicht austreiben. Und gerade die Aufforderung an Sozialarbeiter, Medienpädagogen, Jugendpfleger, Geschichtslehrer und Pastoren, die Toleranzschulungen zu verstärken, zeigt nur, daß die eigentliche Herausforderung noch gar nicht begriffen wurde. Solche Appelle wirken genauso hilflos wie das Sandkasten- Geschrei der Antifa-Bewegung, einfach alle Nazis rauszuschmeißen.

Es gibt keine schnelle Lösung der Flüchtlingsfrage, und es gibt keine einfachen Rezepte gegen den Rassismus. Mit Xenophobien müssen wir leben, nicht aber mit Fremdenhaß in Worten und Taten. Um ihn zu bekämpfen, brauchen wir zuallererst ein bißchen mehr Zivilcourage. Denn jeder von uns kennt das Gefühl, das Adorno in seiner Minima Moralia beschreibt: „Das Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, damit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, daß sie auf Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat.“ Bartholomäus Grill

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