: Brasilien kriegt langweilige Regierung
Collor-Nachfolger Itamar Franco übernimmt geräuschlos sein Amt als Präsident/ Gestürzter Staatschef will aber weiterregieren/ Erfolg der Arbeiterpartei (PT) bei den Kommunalwahlen ■ Aus Rio Astrid Prange
Kaum hat Brasiliens neuer Präsident Itamar Franco sein Amt angetreten, hagelt es bereits Kritik von allen Seiten. Die Opposition, die seinen Vorgänger Fernando Collor de Mello am vergangenen Dienstag im brasilianischen Kongreß für 180 Tage seines Amtes enthoben hat, kann sich auf kein gemeinsames Kabinett einigen. Itamar Franco übernahm am vergangenen Freitag ohne große Zeremonie die Regierungsgeschäfte Brasiliens.
Gestern versicherte der 61jährige ehemalige Vizepräsident, er werde sein Amt nicht nur vorübergehend ausüben, sondern bis zum Ende des Mandats am 1.1.1995. Um dem Kreuzfeuer parteipolitischer Interessen zu entkommen, ernannte er für die Ministerposten enge persönliche Vertraute. Sein Kabinett, von der Presse als „provinziell und mittelmäßig“ kritisiert, besteht aus 17 der nationalen und internationalen Öffentlichkeit völlig unbekannten Ministern.
„Wieso kann ein einfacher Mann nicht Minister werden?“ verteidigte Itamar Franco seinen Wirtschaftsminister Gustavo Krause, der angeblich nicht einmal Englisch kann. Franco verriet, daß er zunächst bekannte Persönlichkeiten aus Sao Paulo sondiert habe, insbesondere für den Posten des Wirtschaftsministers. Doch alle Kandidaten hätten sich mit der Ausrede, Franco sei ja nur vorübergehend im Amt, aus der Verantwortung gewunden.
Fernando Collor, erster Präsident in der Geschichte Lateinamerikas, der wegen korrupten Verhaltens seines Amtes enthoben wurde, macht seinem Nachfolger das Leben nicht leicht. Beim Abschied aus dem Regierungspalast beteuerte er seine Unschuld und bestand darauf, nach dem Gerichtsverfahren im Senat weiterzuregieren. Nach wie vor weigert er sich, zurückzutreten. Am Samstag überreichte er Franco einen saftigen Forderungskatalog: Collor ist der Ansicht, daß ihm auch nach dem Impeachment das Recht auf ein eigenes Kabinett mit zehn Angestellten, Limousine samt Chauffeur und kostenlose Flüge ins In- und Ausland zustehen. Und die brasilianischen Botschaften im Ausland müßten die Reisen des zwangsweise amtsenthobenen Staatsoberhaupts unterstützen und vorbereiten. Statt die Forderungen des beurlaubten Präsidenten abzulehnen, schob Itamar Franco die endgültige Entscheidung dem brasilianischen Kongreß zu. Collor wiederum setzt auf den Faktor Zeit und das Versagen von Itamar Franco: Je katastrophaler die neue Regierung, desto größer seine eigenen Chancen, den Regierungspalast zurückzuerobern.
Die Starrhalsigkeit und Realitätsfremde von Ex-Präsident Collor erklärt sich zum Teil durch seine komplizierten Familienverhältnisse. Nicht nur Fernando Collor, auch sein jüngerer Bruder Pedro sowie der 1983 verstorbene Vater Arnon de Mello haben die Grenze gesellschaftsfähigen Verhaltens bereits einige Male überschritten. Arnon de Mello, stets bewaffnet, erschoß in den 70er Jahren im brasilianischen Senat „aus Versehen“ einen Kollegen — eigentlich wollte er einen politischen Gegner treffen. Pedro Collor wurde im Mai dieses Jahres von seiner Mutter Leda dazu gezwungen, sich auf seine geistige Gesundheit untersuchen zu lassen, nachdem er seinen Präsidentenbruder Fernando samt Unternehmerfreund Paulo Cesar Farias vor der Presse als korrupt bezeichnete. Pedro Collors Enthüllungen führten zur Einberufung der Untersuchungskommission, die wiederum den Impeachment-Prozeß gegen Fernando Collor in Gang brachte. Die Familie Collor aus dem nordöstlichen Bundesstaat Alagoas wird mit eiserner Hand von Mutter Leda Collor regiert, die 80 Prozent der Aktien des Medienimperiums der Familie kontrolliert.
Rios Zukunft ist weiblich
Unmittelbar verbunden mit Collors Amtsenthebung ist auch ein anderes außergewöhnliches Ereignis: Benedita da Silva, bis jetzt einzige schwarze Abgeordnete im brasilianischen Parlament, ist dabei, die erste schwarze Bürgermeisterin des Landes zu werden. Bei den Gemeindewahlen vom 3. Oktober bekam sie laut Umfragen in Rio de Janeiro 30 Prozent der Stimmen. Das endgültige Ergebnis der Wahlen wird erst am Mittwoch verkündet. Doch schon jetzt gilt es als sicher, daß zwei Frauen in der Stichwahl das Rennen unter sich ausmachen: Benedita da Silva, Kandidatin für die Arbeiterpartei PT, und Cidinha Campos, Kandidatin der sozialdemokratischen PDT. Auch in vier weiteren Provinzhauptstädten ging die PT siegreich aus den Wahlen hervor.
Benedita da Silva, ehemalige Wäscherin und Straßenverkäuferin, wuchs in einer der zahlreichen Elendsviertel der Stadt auf. Ihr mühsamer sozialer Aufstieg hat sie zu einer Anwältin der Armen gemacht. Für Ivanir dos Santos, Anführer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung CEAP in Rio, verkörpert die PT-Abgeordnete „schwarze Würde“. „Die Kinder in der Favela kennen Schwarze nur als Verbrecher und Drogenhändler. Benedita ist das Gegenbeispiel, das sie bewundern“, meint Santos.
Ihre sozialdemokratische Gegenkandidatin Cidinha Campos, die eine in Rios Favelas beliebte Radiosendung leitet, ist eine glühende Anhängerin von Leonel Brizola, des sozialdemokratischen Gouverneurs des Bundesstaates Rio de Janeiro. Die Radiozuhörerschaft Cidinhas ist identisch mit dem Wählerpublikum von Brizola: 75 Prozent der ZuhörerInnen sind Frauen, 90 Prozent von ihnen sind über 30 Jahre alt und gehören zu den ärmsten Einwohnerinnen der Stadt. Der immer weiter verarmende Großraum Rio de Janeiro mit seinen 9,6 Millionen Einwohnern — davon ein Drittel Slumbewohner — wird für beide Kandidatinnen, die ihr Können bis jetzt lediglich im brasilianischen Kongreß unter Beweis gestellt haben, ein harter Brocken sein.
Auf brasilianischen Pfaden
La Paz (dpa) — In Bolivien haben Zehntausende gegen die wachsende Korruption im Staate demonstriert. Allein in der Hauptstadt La Paz gingen am Donnerstag 15.000 Hausfrauen, Studenten, Arbeiter und Angestellte auf die Straße. Auf Spruchbändern forderten sie ein Ende der Vetternwirtschaft im Staatsapparat und mehr Transparenz bei der Privatisierung öffentlicher Unternehmen. „Das Volk ist der Korruption müde“, sagte der Sprecher des Gewerkschaftsverbandes COB, Hugo Asuncion. „Wie in Brasilien kann in Bolivien nur der systematische Druck des Volkes die Bestechlichen besiegen.“
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