: Bruderkrieg in Theben
„Sieben gegen Theben“ und „Antigone“, gespielt vom Roma-Theater Pralipe ■ Von Gerhard Preußer
Aus Skopje, Makedonien, nicht weit von Griechenland, kommt das Roma-Theater, aus Jugoslawien, einem zerfallenden Staat, in dem sie selbst Fremde waren. So spielen sie denn das älteste Stück der europäischen Kultur über Staatszerfall, Geschlechterfluch und Bruderzwist: Aischylos' „Sieben gegen Theben“.
Archaisch einfache Götterbilder sind in die Lehmwand geritzt, grobe Gesichtszüge, Augen, Münder, zu denen Frauen beten. Vor dieser Bitt- und Klagemauer steht der blinde Seher Teiresias mit einer irdenen Kugel in den Händen. Er weissagt, abweichend vom Text des Aischylos, zu Beginn den Untergang der Stadt. Dann kommt Eteokles, ein Sohn des Ödipus, Herrscher über Theben, schreiend auf die Bühne. Hinter sich schleift er sieben Schwerter und Schilde her. Er will die Stadt zum Verteidigungskampf gegen die Belagerer, geführt von seinem Bruder Polyneikes, aufrufen. Der Chor der Jungfrauen stellt sich ihm entgegen, beschwört ihn mit Gesängen und Tänzen, den voraussehbaren Wechselmord zu vermeiden. Auf diese Konfrontation, hier der brudermörderische Mann, der Protagonist des Krieges, dort die furchtsamen Frauen, die Opfer des Krieges, ist der erste Teil des Abends abgestellt.
Rahim Burhan, der Regisseur und Leiter der Truppe, benutzt suggestive Bilder und Klänge zur Deutung des in Romanes gesprochenen Textes. Als Eteokles die Frauen von der Notwendigkeit patriotischer Pflichterfüllung überzeugt hat, schrubben sie die Schilde der sieben Helden. Und Eteokles selbst spricht sein todbereites Gebet, bevor er sich in den Bruderkampf stürzt, kniend mit der Schwertspitze unterm Kinn. Die Frauen singen Klagelieder mit den schrillen Sekunddissonanzen der Bauernlieder des Balkan. Aber der martialische Schlußeffekt gerät dann ebenso wie die phantastische Kostümierung des Eteokles in die Nähe des Hollywood-Kitsches. Der todesmutige Zweikämpfer stürzt sich brüllend durch das Götterbild in der Mauer hindurch in den Kampf. Hinter ihm stürzen die Steinbrocken zusammen. Ein Mann geht durch die Pappwand in den Bühnentod. Danach ziehen die Frauen nur noch rote Bänder aus den Mauerritzen: Blutströme und Trauerschmuck.
Den zweifelhaft überlieferten Schluß des Aischylos-Dramas, die Beweinung des Eteokles, läßt Rahim Burhan ebenso weg wie den Beginn von Sophokles' „Antigone“. Die beiden Dramen haben zwar von ihrer Entstehung her keinen Zusammenhang, beziehen sich aber so aufeinander, daß Sophokles den von Aischylos begonnenen Mythos des Labdakiden- Hauses weitererzählt. Schon in der Antike wurde daher „Sieben gegen Theben“ als Vorspiel zum „Antigone“-Drama umgearbeitet.
Die Pralipe-Inszenierung beginnt nach der Pause mit einem verzerrten Zirpen im Bühnenlautsprecher, das sich als die bekannte Staudurchsage des WDR-Verkehrsfunks herausstellt — eine allzu abrupte Erinnerung an die Gegenwart der Inszenierung. Dann folgt direkt, am Mikrophon vor dem Vorhang, Kreons Rede an das Volk, an uns, die Verkündung des Bestattungsverbots für Polyneikes. War der erste Teil des Abends ganz auf die Gegenüberstellung von Chor und Protagonist abgestellt, so ist im zweiten Teil der Chor gestrichen. Die thebanischen Alten dürfen nicht singen. Nur die Rededuelle zwischen Kreon, Teiresias, Antigone und Haimon bleiben erhalten. War der erste Teil betont archaisch ausgestattet, setzt der zweite kalkulierte Anachronismen ein. Kreon residiert in einem Studierzimmer mit überfülltem Bücherregal. Dort verhört er Antigone, dort reißt sein Sohn Haimon die Lehrbücher der Staatskunst und des Herrscherrechts aus dem Regal und wirft sie seinem Vater vor die Füße.
Antigone stirbt nicht abseits im Verlies, sondern auf offener Bühnegewand. Ismene, ihre Schwester, erweist ihr als Leichenwäscherin einen letzten Dienst. Wieder steigert sich die Inszenierung dann zu einem spektakulären Schlußeffekt. Kreon kommt nach der Nachricht vom Selbstmord seines Sohnes in sein Arbeitszimmer, stößt tobend alle Möbel um und fällt mit verzweifelten Axthieben die überdimensionierte, reich verzierte Säule in der Mitte des Raumes. Der Staat, der Brüder und Geschwister gegeneinander hetzte, bricht zusammen. Die Axt im Haus erspart die Revolution. Aischylos zeigt, wie der Fluch, der auf dem thebanischen Herrschergeschlecht lastet, das Gemeinwesen zerstört, wie der Kampf gegen ein „fremdsprachiges Heer“, in dem doch der eigene Bruder kämpft, in den Untergang führt. Sophokles stellt diesen selbstzerstörerischen Vaterlandsverteidigern eine Gegenposition entgegen: Antigones Beharren auf hergebrachten Bräuchen, in denen Mitmenschlichkeit sich ausdrückte: „Mitzulieben, nicht mitzuhassen bin ich da.“ In der Inszenierung des Roma-Theaters sind die Wertungen viel klarer als im originalen Text: Eteokles und Kreon sind die Kriegspartei, die Vertreter einer patriotischen Staatsräson, Antigone und die thebanischen Jungfrauen sind die Vertreter einer versöhnenden Menschlichkeit. Unter dem Zwang der Verständigung mit einem Publikum, das des Romanes nicht mächtig ist, folgen Rahim Burhans Bilder einem Hang zur überwältigenden Eindeutigkeit, der im Gegensatz steht zu den präzisen, aber vieldeutigen Bildern seines Mentors Roberto Ciulli, dem Leiter des Theaters an der Ruhr.
Diese vierte Inszenierung des Roma-Theaters, seit es Teil des Mülheimer Theaters geworden ist, fügt sich ein in ein Antiken-Projekt des Stammensembles. Nachdem Ciulli mit seiner Truppe in Sophokles' „König Ödipus“ die Vorgeschichte zu „Sieben gegen Theben“ bereits in der letzten Spielzeit inszeniert hat, wird er in dieser Spielzeit nun Sophokles' „Ödipus auf Kolonnos“, einen weiteren Teil der Vorgeschichte von „Antigone“, auf die Bühne bringen. Dann wird das Mülheimer Theater alle überlieferten Dramen des thebanischen Mythos im Programm haben: Theben als Beispiel, Theben als Warnung.
Aischylos: „Sieben gegen Theben“. Sophokles: „Antigone“. Roma-Theater Pralipe/Theater an der Ruhr, Mülheim. Inszenierung: Rahim Burhan. Bühne: Marina Cuturilo. Weitere Vorstellungen: 17., 18.Oktober, Mülheim, Theater im Raffelbergpark.
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