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„Zum ersten Mal steigt die Rückfallrate wieder an“

■ Die Kürzungen im Sozialetat zwingen Antonio Di Gerardo dazu, das von ihm geleitete Heim für drogensüchtige Jugendliche und Ausreißer zu schließen.

taz: Seit zehn Jahren existiert die „Comunita“ für Drogensüchtige und von zu Hause ausgerissene Jugendliche in der Region Lazium. Nun haben Sie die Schließung angekündigt, aus Mangel an Unterstützung. Gab es keine andere Lösung?

Di Gerardo: Nein. Wir brauchen ausgebildetes Personal, nicht nur freiwillige Helfer und karitative Menschenfreunde, sonst ist jeder Ansatz zum Scheitern verurteilt. Vor allem aber brauchen wir Materialien und Instrumente, die alle ziemlich viel kosten.

Wieso klappte das bisher und klappt nun nicht mehr?

Weil der Staat zwei Fixpunkte des sozialen Netzes gleichzeitig zerstört: die familiäre Solidaritätshilfe und die staatliche Fürsorge. Das ist tödlich. Und die Folgen werden auch für diejenigen schrecklich sein, die sich außen vor glauben, die Reichen.

Wie sahen diese beiden „Fixpunkte“ für Euch konkret aus?

Das familiäre Solidaritätsnetz sorgte dafür, daß — zumindest auf dem Land und in den Kleinstädten — ein in Not geratener Verwandter in irgendeiner Weise über Wasser gehalten wurde. Ein drogenabhängiger oder ausgerissener Jugendlicher, der bei uns lebte, bekam stets Unterstützung von zu Hause — die Eltern brachten ihm Lebensmittel, Geld für Zigaretten, etwas für seine Zimmereinrichtung, und oft fiel für unsere Gemeinschaft da auch etwas ab. Die staatliche Fürsorge bezahlte in der Regel die Miete fürs Haus und den Hof, auf dem die Jungen und Mädchen arbeiten, sie gab Geld für Materialien bei der Instandsetzung von Gebäuden und so weiter.

Inwieweit fällt beides nun weg?

Die staatlichen Mittel werden immer weiter gestutzt — mittlerweile ist manchmal das Antragspapier mit den notwendigen Steuermarken drauf teurer als die Summe, die man beantragt! Bewilligte Zuschüsse kommen oft mit jahrelanger Verspätung, und die derzeitige Hochzinspolitik macht auch Bankkredite unmöglich. Gleichzeitig aber wird der Steuer- und Abgabendruck auf die Familien so groß, daß sie kaum mehr etwas abgeben können. Die Besuche werden immer seltener, die Gaben spärlicher; sie schämen sich oft, mit leeren Händen zu kommen — obwohl ja jeder Besuch immens wichtig ist. Und viele nehmen ihre Jungen oder Mädchen aus der Behandlung, bevor die Erfolge gefestigt sind: Erstmals seit acht Jahren steigen in ganz Italien die Rückfallraten ehemals Süchtiger wieder deutlich an. Werfen wir diese Menschen jetzt auf die Straße, setzt sich genau der Mechanismus wieder in Gang, den wir unterbrechen wollten: neue Süchte, Beschaffungskriminalität, Verbreitung von Aids und so weiter. Und bei den von zu Hause ausgerissenen Jugendlichen wird der bestehende Mangel an sozialer Bindung noch mehr verstärkt. Auch unter finanziellem Gesichtspunkt werden die Folgen unsere Gesellschaft um ein Vielfaches teurer zu stehen kommen als die bisher dafür gegebenen Mittel.

Das Gespräch führte Werner Raith

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