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Die IG Metall in der Defensive

Der erste gesamtdeutsche IG-Metall-Kongreß steht im Zeichen des industriellen Zusammenbruchs in Ostdeutschland/ Absage an generelle Tariföffnung, Flexibilität im Einzelfall  ■ Aus Hamburg Martin Kempe

Bei Eröffnungsfeiern für Gewerkschaftstage der IG Metall wird nichts dem Zufall überlassen. Um 15 Uhr sollte die Feier am Sonnabend beginnen, und im Programm war deshalb für 14.50 Uhr ausgedruckt: „Einnehmen der Plätze“. Die größte Gewerkschaft der Welt mit mehr als 3,6 Millionen Mitgliedern muß sich derzeit in einer politisch und sozial unübersichtlichen Situation behaupten: Der Zusammenbruch der industriellen Strukturen im Osten, die beginnende Rezession im Westen mit starken Krisensymptomen in den Kernbereichen ihres Organisationsbereichs — das alles führt bei vielen zu starken Verunsicherungen. Um so wichtiger, scheint es, ist da die Ordnung im kleinen.

Der Festredner der Eröffnungsveranstaltung, der Präsident des Club of Rome, Ricardo Diez- Hochleitner, konnte den Metallern ebenfalls wenig Beruhigendes mitteilen. Auch die Gewerkschaften, so meinte er, seien — wie Staat und Unternehmer — häufig noch nicht in der Lage, die Gesamtzusammenhänge des industriellen Wachstumsmodells zu begreifen, und drückten sich vor der politischen „Mitverantwortung am Ganzen“. Er stellte dem am kurzfristigen Profit orientierten wirtschaftlichen System, „mit dem wir uns auf die Katastrophe hin bewegen“, das Prinzip der „globalen Solidarität“ gegenüber. Auf dem Gewerkschaftstag selbst allerdings geht es weniger um globale Dimensionen als um die deutsch- deutschen Probleme, von denen die IG Metall besonders betroffen ist. Sie hat die Angleichung der Ostlöhne an das Westniveau bis 1994 tarifvertraglich festgeschrieben und muß jetzt feststellen, daß die Voraussetzungen dafür unter den Trümmern des industriellen Zusammenbruchs in Ostdeutschland begraben werden.

Der Druck, in Not befindlichen Betrieben Ostdeutschlands durch untertarifliche Bezahlung eine Überlebenschance zu gewähren, kommt nicht aus Bonn. Auch die Unternehmer drängen inzwischen auf tarifliche Öffnungsklauseln oder eine zeitliche Streckung der Tarifangleichung. Und in vielen Betrieben hoffen die Beschäftigten, ihre Arbeitsplätze durch Lohnverzicht retten zu können.

Die Diskussion darüber wird der Gewerkschaftstag in den nächsten Tagen führen, auch wenn der IGM-Vorsitzende Franz Steinkühler und der Tarifpolitiker Klaus Zwickel gesetzlich erzwungenen Öffnungsklauseln eine eindeutige Absage erteilten. Denn dadurch würde die Bindungskraft von Tarifverträgen insgesamt ausgehöhlt. Aber die Tür für eine flexible Problemlösung in Einzelfällen ist damit keineswegs zugeschlagen — auch wenn das in Hamburg bisher so deutlich nicht gesagt wurde.

Auch der latente Konflikt mit der ostdeutschen Betriebsräte-Initiative wurde bisher nur durch die Blume angesprochen. Als Vorbild betrieblichen Widerstands feierte Steinkühler die Betriebsräte des Stahlwerks Freital, die durch ihre spektakuläre Besetzung des Dresdner Flughafens eine Revision des Stillegungsbeschlusses bei der Treuhand erreichten. Diese Kollegen hätten ihren Erfolg „mit Unterstützung der IG-Metall-Bezirksleitung Dresden“ und des sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf erreicht, hob Steinkühler beiläufig hervor. So sollte es immer sein, meinte er wohl. Aber was Betriebsräte machen sollen, die derartige Unterstützung von ihrer Gewerkschaft nicht erhalten, sagte er nicht.

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