: Russische Küstenwache entert Greenpeace-Schiff
■ Umweltschützer wollten versenktes Atom-U-Boot vor Nowaja Semlja filmen
Berlin (taz) — Die russische Küstenwache hat gestern das Greenpeace-Schiff „Solo“ beschossen und anschließend geentert. Schon seit mehreren Tagen versuchte die russische „Ural“, die Umweltschützer aus dem Gebiet rund um die Insel Nowaja Semlja abzudrängen, wo sie die nukleare Verseuchung untersuchen wollen. Als die Crew gerade ein Schlauchboot mit Unterwasserkameras absetzte, um Aufnahmen von einem 1982 versenkten sowjetischen Atom-U-Boot in 50 Meter Tiefe zu machen, griffen die Küstenschützer ein. Das Schiff mit 30 Umweltaktivisten an Bord befand sich außerhalb des russischen Hoheitsgewässers vor der arktischen Insel Novaja Semlja. Der deutsche Atommüllexperte Tomas Schultz- Jagow konnte sich in der Funkkabine einschließen und Nachricht nach Hamburg geben.
Das über 90.000 Quadratkilometer große Areal rund um die langgestreckte Insel Nowaja Semlja unterliegt bis heute strengster Geheimhaltung. In den 50er und 60er Jahren unternahmen die Sowjets hier zahlreiche Atomversuche im Wasser, unter der Erde und auch in der Luft. Zwischen 1964 und 1986 wurden hier mindestens 16.000 Tonnen radioaktive Flüssigkeiten versenkt. Auch Container mit festem strahlenden Material wurden einfach über Bord gekippt. Manchmal sanken die Frachtschuten mit dem radioaktiven Abfall bereits im Hafenbecken; einem Journalisten der Komsomolskaja Prawda gelang es, einige solcher Fälle zu dokumentieren. Auf dem Meeresgrund liegen außerdem mehrere Atom-U-Boote, die hier zum Teil gesunken, zum Teil aber auch mitsamt ihrem nuklearen Brennstoff entsorgt wurden.
Die ersten konkreten Informationen erhielten die Greenpeacler im September 1991 auf einem Kongreß in Moskau, bei dem 40 Delegierte aus sowjetischen U-Boot- und Atomhäfen am Eismeer ihr Wissen zusammentrugen.
Die Gefahren, die von dem Atommüll auf dem Meeresgrund ausgehen, sind bisher nicht abschätzbar. Die zum Teil starken Strömungen und die langsame Oxidation der Behälter lassen aber Schlimmes befürchten. In Murmansk sind 1990 vermutlich 25 Kinder an Blutkrebs gestorben, 102 neue Bluterkrankungen wurden registriert. Die der Atomtestinsel gegenüberliegende Halbinsel Tschuktschen weist die weltweit höchste Sterberate an Speiseröhrenkrebs auf. Und zehnmal mehr Menschen als im Landesdurchschnitt verlieren hier ihr Leben durch Leberkrebs. Annette Jensen
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