piwik no script img

Teure Expertenrunden stellen falsche Fragen

■ Die Kommissionen zur Leukämie in der Elbmarsch folgen einem wissenschaftlichen Ansatz, der dem komplexen Problem nicht gerecht wird. Vor allem bei der Grenzwert-Frage: Wenn viele Einzel-Gifte...

Vor allem bei der Grenzwert-Frage: Wenn viele Einzel-Gifte im jeweils erlaubten Rahmen bleiben, können sie doch zusammen verheerend wirken

Noch immer verläuft die Suche der von Kiel und Hannover eingerichteten Experten-Kommissionen nach den Ursachen der Leukämieerkrankungen bei Kindern in der Elbmarsch ergebnislos. Verwunderlich ist dies nicht. Nicht etwa deshalb, weil es schwierig ist, den einen oder anderen Giftstoff als Verursacher zu verhaften. Sondern weil die Kommissionen sich einer wissenschaftlichen Logik verpflichtet fühlen, die angesichts der Komplexität der Giftstoffe und deren Auswirkungen auf den Menschen zum Scheitern verurteilt ist.

Den drei wichtigsten Fragen haben beide Kommissionen bislang keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt: 1. Sind die Grenzwerte für den Ausstoß chemischer und radioaktiver Emissionen zu hoch? 2. Kann man den Meßergebnissen überhaupt trauen? Und 3. Wie wirken die zahlreichen freigesetzten Umweltgifte zusammen?

Inge Schmitz-Feuerhake ist die einzige Wissenschaftlerin, die mit ihren Arbeiten deutliche Hinweise hervorgebracht hat, daß Radioaktivität als Ursache für die Erkrankungen in Frage kommt. Sie fand im Blut von Kindern und Erwachsenen aus der Elbmarsch dyzentrische Chromosomen, Veränderungen, die durch Strahlung hervorgerufen werden können. Außer diesen Befunden haben die „Kommissäre“ nichts in der Hand, und weil die Atombetreiber nach eigenem Bekunden nie die zulässigen Grenzwerte überschritten haben, können es die Atomanlagen eigentlich ja nicht gewesen sein. Nicht diskutiert wird in den beiden Experten- Runden, ob die genehmigten Grenzwerte, also die erlaubten Vergiftungen durch verschiedene radioaktive Stoffe, zu hoch sind.

Meßgeräte bekommen auch nicht alles mit

Selbst wenn man unterstellt, daß nach vernünftigen Kriterien entwickelte Grenzwerte durch die Genehmigungsbehörde festgesetzt wurden, stellt sich die Frage, ob sichergestellt ist, daß diese auch eingehalten werden. Die bundesdeutschen Atomkraftwerke sind mit zahlreichen Meßstellen umgeben, die jede Erhöhung der radioaktiven Abgaben lückenlos registrieren sollen. Doch genau das funktioniert so nicht.

Nach dem Super-Gau in Tschernobyl wurde in der Umgebung des AKW Hamm-Uentropp eine deutlich höhere radioaktive Belastung gemessen. Die zuständigen Kontrollstellen führten dies auf den Fallout aus dem sowjetischen Atommeiler zurück. Erst nach mehreren Tagen wurde klar: Die Betreiber hatten nach einem Störfall derart ungeschickt an dem Reaktor herumgespielt, daß sie dabei Radioaktivität in die Umwelt abließen.

1990 kam es im AKW Krümmel gar zu einem Störfall, bei dem Radioaktivität freigesetzt wurde, ohne daß ein einziges Meßgerät Alarm gab. Über 200000 Kubikmeter mit radioaktivem Tritium verseuchtes Wasser wurden aus einem unterirdischen Rohr an die Umwelt abgegeben. Das Kieler Energieministerium gab damals zu: „Die sicherheitstechnische Bedeutung des Vorfalls liegt darin, daß die Abgabe der Radioaktivität in die Umgebung unkontrolliert erfolgt ist, ohne durch Meßgeräte erfaßt zu werden.“ Im Klartext: Kein einziges Meßgerät in der Umgebung des Atommeilers war in der Lage, die massive Tritium-Freisetzung festzustellen. Die Frage drängt sich auf: Wieviele Störfälle mag es in Krümmel und den Reaktoren des Forschungszentrums Geesthacht (GKSS — Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt) gegeben haben, die nie registriert wurden?

Sensoren ermitteln nur die Gamma-Strahlen

Zweifel an der Zuverlässigkeit der Meßprogramme bestehen aber auch noch aus einem anderen Grund. Die radioaktiven Emissionen müssen vom Betreiber der kerntechni-

schen Anlage, aber auch — zur

1Kontrolle — von einer unabhängigen Meßstelle durchgeführt werden. Und diese „unabhängige Meßstelle“ ist die GKSS. Sämtliche Meßwerte stammen also von dem Institut, das im Verdacht steht, die Leukämieerkrankungenn zumindest mitverursacht zu haben.

Insider wissen nun, daß es auch noch die sogenannte Fernüberwachung gibt. Von einigen Meßstellen aus werden Werte unmittelbar in einen Kontrollraum im Kieler Energieministerium übermittelt. Das Problem hierbei: Diese Sensoren ermitteln überwiegend die Gamma- Strahlung. Werden jedoch radioaktive Stoffe freigesetzt, die wie beispielsweise Tritium oder Strontium 90 vor allem Alpha- und Beta- Strahler sind, laufen die Messungen ins Leere.

Die Tauglichkeit dieses Überwachungssystems zu überprüfen und eventuelle Lücken aufzuzeigen, hätte eine wichtige Aufgabe der Kommissionen sein können. Doch stattdessen akzeptieren die Wissenschaftler, was Atombetreiber, Landes- und Bundesregierungen und viele etablierte Wissenschaftler versichern: Das System funktioniert.

Weiterreichende Probleme rücken nicht in den Horizont der Untersuchungsarbeit. So bleiben die beiden von Niedersachsen und

Schleswig-Holstein eingerichteten

1Kommissionen bei sämtlichen Untersuchungen streng dem Konzept des Einzelgiftstoff-Nachweises verpflichtet. Damit entsprechen sie dem Gesetzgeber, der als Maßstab für mögliche Gefährdungen auch stets nur Grenzwerte für einzelne Stoffe setzt.

Die Protokolle der niedersächsischen Kommissions-Tagungen lesen sich wie ein Horror-Roman. Da wird DDT in der Muttermilch analysiert, Benzol untersucht, Trinkwasser überprüft, da werden Emissionen von Chemiebetrieben geprüft und Meßprotokolle studiert. Überall wird man fündig, die Liste

der Schadstoffe ist lang. Doch kein

1einziges Gift hat die zulässigen Grenzwerte überschritten, mit kleinen Abweichungen bewegen sich alle Emissionen innerhalb des Erlaubten, ergo können auch sie es nicht gewesen sein.

Die zentrale Frage nach dem Zusammenwirken all dieser Giftstoffe wird nicht gestellt. Noch nicht einmal die Tatsache, daß sich Grenzwerte an gesunden, männlichen Erwachsenen und nicht an den wesentlich mehr gefährdeten Kindern orientieren, hat die Kommissionen bisher bekümmert.

Auch wenn Grenzwerte nicht überschritten werden: Die von

Krümmel und den GKSS-Reaktoren

1abgegebene Radioaktivität belastet die Bevölkerung in der Umgebung zusätzlich. In seinem Buch „Risikogesellschaft“ macht Ulrich Beck die Unlogik der Festsetzung von Grenzwerten auf eindringliche Art deutlich: „Sie lassen den Giftausstoß zugleich zu und legitimieren ihn in eben dem eingeschränkten Umfang. Wer die Verschmutzung begrenzt, hat der Verschmutzung auch zugestimmt. Das, was jetzt noch möglich ist, ist per sozialer Definition 'unschädlich‘ — wie schädlich es auch immer sein mag.“

Und nicht nur das beklagt der Autor: „Mit Grenzwerten wird zugleich das festzulegende 'bißchen‘ Vergiftung Normalität. Es verschwindet hinter den Grenzwerten. Grenzwerte ermöglichen eine Dauerration kollektiver Normalvergiftung. Sie machen Vergiftung, die sie zulassen, allerdings zugleich ungeschehen, indem sie die erfolgte Vergiftung für unschädlich erklären. Wenn man Grenzwerte eingehalten hat, hat man in diesem Sinne nicht vergiftet — egal, wieviele Giftstoffe in den Nahrungsmitteln, die man produziert, tatsächlich enthalten sind.“

Die Folge: „Das System professioneller Überspezialisierung und seiner behördlichen Organisation versagt angesichts der Risiken, die die industrielle Entwicklung freisetzt.“ Während die Menschen von den zahllosen Giften in ihrer Ganzheitlichkeit bedroht werden, antworten Wissenschaftler „mit einzel-stofflichen Grenzwerte-Tabellen“.

Arbeitsplatzsicherung mit Millionenaufwand

Die Logik des Grenzwerte-Poker heißt: Alle Giftstoffe zusammen, liegen sie unterhalb der Grenzwerte, können keine Schädigungen hervorrufen. Tun sie es doch, dann wird der ganze Vorfall zu einem persönlichen Problem.

Wenn also die Betreiber der GKSS und des Krümmeler Atommeilers immer wieder beteuern, daß sie die Grenzwerte eingehalten haben, dann heißt das nichts anderes, als daß sie Umwelt und Menschen eben nur ein „bißchen“ vergiften. Was nützen vor diesem Hintergrund Kommissionen, die mit Millionen Mark Aufwand ihre Arbeitsplätze zu sichern wissen?

Die Bevölkerung in der Elbmarsch muß sich jedenfalls die Frage stellen, ob die Kommissionen nicht vor allem eine große Alibiveranstaltung darstellen. Hochakademisch wird dort auf der Grundlage von Grenzwert und Giftstoff vor sich hingeforscht, und mit großer Sicherheit wird nach Recht und Gesetz nichts dabei herauskommen. Wer falsche Fragen stellt, wird auch falsche Antworten erhalten. Dirk Seifert

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen