: Godzilla mit Goldkehlchen
Aaron Neville und seine Brothers im Berliner Tempodrom ■ Von Matti Lieske
Wenn es einen Punkt gibt in Amerika, wo alles zusammenkommt, wo die Kulturen, die den Kontinent im Kielwasser des Kolumbus mehr oder weniger gewaltsam überschwemmten, aufeinandertrafen, sich vermischten, miteinander verschmolzen, so ist das New Orleans. Hier im Mississippi- Delta folgten den Spaniern die Franzosen, den Franzosen die Angelsachsen, und alle verschleppten sie ihre jeweiligen Sklaven aus den verschiedenen Teilen Afrikas nach Louisiana. Und alle brachten sie ihre Musik. Kreolische, karibische, britische, afrikanische Rhythmen prallten zusammen, New Orleans wurde zu einem brodelnden Kessel musikalischer Gegensätze, die sich magisch anzogen. „One world, one music“ bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts.
Aus der Kakophonie der Harmonien entstanden neue Idiome; Blues, Cajun, Jazz– an New Orleans führte kein Weg vorbei. Die Stadt atmete Musik, gerade mal 200.000 Einwohner wurden von mehr als 30 großen Orchestern unterhalten, bis in die dreißiger Jahre kamen 60 Prozent aller Jazzmusiker aus der Stadt am Delta. Das ist etwa so, als würden heute fast alle zeitgenössischen Musiker Deutschlands von den Toten Hosen bis Grönemeyer aus Braunschweig stammen.
Vieles in New Orleans ist mittlerweile zur Pose erstarrt, was einst pulsierendes Leben war, ist nunmehr bloße touristenlockende Attitüde. Ein Teil des alten Zaubers ist jedoch immer noch lebendig, zum Beispiel, wenn beim Mardi Gras oder bei anderen Gelegenheiten das Volk in den Straßen tollt. „Ich erinnere mich noch an den letzten St. Patrick's Day“, sagt Charles Neville, „an dem gleichzeitig eine irische, eine südamerikanische und eine französische Parade stattfand. Ein gutes Beispiel für die kulturelle Vielfalt von New Orleans.“
Charles und seine drei musikalischen Brüder sind typische Kinder ihrer Stadt, geniale Eklektizisten, die ganz im Geiste des allten Storyville jede Menge Musikstile aufsaugen, integrieren und mit dem typischen Neville-Touch versehen. Ob karibischer Karnevalssong, schottische Ballade, knallharter Rock 'n' Roll, ob Gershwin, Dylan oder Steve Miller, den Nevilles ist jedes Mittel recht, ihr Publikum in einen Taumel der Entzückung zu versetzen.
Wie Brüder sehen sie eigentlich nicht aus, wenn sie oben auf der Bühne des Berliner Tempodroms stehen. Der vierschrötige Aaron, eine Art Godzilla mit Goldkehlchen, könnte, wenn er eines Tages in den Stimmbruch kommt, durchaus als Rausschmeißer in einer Hafenkaschemme an den Gestaden Lousianas arbeiten. Brüderchen Charles, der voller Inbrunst ins Saxophon pustet, wirkt mit seinem Che-Guevara-Käppi, als sei er aus einem Guerillalager in den bolivianischen Bergen angereist; der schlägerbemützte Keyboarder Art könnte ohne weiteres als Pitcher im örtlichen Baseballclub durchgehen, während Conga-Spieler Cyril, im Outfit eines kamerunischen Fußballfans, für das afrikanischjamaikanische Element und das „peace, one world, one god“-Gesumms sorgt. Voilà: „The mighty, mighty Neville Brothers“.
Und mächtig, mächtig legen sie los im wohlgefüllten Tempodrom, vertreiben mit wuchtigem Funk die Kälte, verbreiten gute Laune und scheinen selbst deutlich glücklich darüber, daß sie nach dreißig Jahren im harten Musik-Busineß endlich den Durchbruch geschafft haben. Dann: „Der Segen von Aaron Nevilles Stimme“ (Cyril Neville). Mit sanftem Timbre, das Gene Pitney und The Platters vor Neid erblassen ließe, säuselt er eine kathedralenartige Version von Bob Dylans „With God On Our Side“. Es folgt die bunte Palette der Neville-Knüller von „Iko, Iko“ bis zu „Tell It Like It Is“ – „the blessing of Aaron Nevilles Voice“ –, jenem Superhit, den Aaron schon 1966 schrieb und um dessen Ertrag skrupellose Plattenmanager den damals 25jährigen Künstler brachten.
Je länger das Konzert dauert, desto mehr fühlt man sich ins vielzitierte New Orleanser Stammlokal der Brothers versetzt, dessen Name in keiner Konzertkritik fehlen darf. Die begeisterten Menschen im Zelt fordern kategorisch Zugaben und bekommen sie auch. Ein Rock-Medley, Amazing Grace („the blessing...“), und dann darf Cyril noch einmal voll aufdrehen: „Peace, one world, one god, one to love“. In der Einheit liegt die Freiheit. Wohl dem, der in New Orleans zu Hause ist.
Letzter Termin: 18.10. Hamburg
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