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Kohlestaub und Gänseblümchen

In Gelsenkirchen soll auf dem Gelände der für 1997 geplanten Bundesgartenschau ein gigantisches Kohlekraftwerk errichtet werden  ■ Von Walter Jakobs

Sonntags verkündet Michael Schönberg von der Kanzel der evangelischen Kirche in Gelsenkirchen-Heßler das Evangelium. Unter der Woche kämpft er zusammen mit Christen und Atheisten in einer Bürgerinitiative gegen die „VEBA Kraftwerke Ruhr AG (VKR)“ und gegen die örtliche SPD, die, wie fast überall im Revier, auch in Gelsenkirchen mit absoluter Mehrheit regiert. „Für viele war es enorm motivierend zu sehen, daß so ein Pflockenhaufen wie wir – von der Emanze bis zum Steiger – in der Lage ist, gegen einen Giganten wie die VEBA erfolgreich anzugehen.“ Als „Indikator“ für den neuen Schwung nennt der Redner in der Kneipe „Wicküler Eck“ in Gelsenkirchen-Heßler einen seltsam anmutenden Beleg: „Am Sonntag waren fünfzig Leute mehr in der Kirche.“ Je größer die Erfolge gegen den Energiegiganten VEBA, um so mehr Kirchgänger?

Die VEBA hat in Gelsenkirchen Großes vor. Ausgerechnet auf dem Gelände der für 1997 geplanten Bundesgartenschau in Gelsenkirchen-Heßler will sie ein 775 Megawatt leistendes Steinkohlegroßkraftwerk bauen. Eine „Spitzenanlage in puncto Umweltschutz“ mit einer „futuristischen Glasfassade“, die, so verkünden die VEBA-Werbeblättchen, „neue Maßstäbe in der Industriearchitektur“ setzen und eine „harmonische Verbindung mit der Bundesgartenschau“ eingehen werde.

Die SPD in Gelsenkirchen findet das toll. Der Unterbezirk der Partei „begrüßt das Vorhaben“ und erkennt „darin ein Signal in die richtige Richtung“ zum Erhalt des deutschen Steinkohlebergbaus. Nordrhein-Westfalens Umweltminister Klaus Matthiesen schwärmt von „einmaligen Perspektiven und Chancen für den ökologischen und ökonomischen Umbau“, die sich durch Bundesgartenschau (Buga) plus Kohlekraftwerk für die Region ergeben.

Solche Töne quittieren die etwa zwei Dutzend Männer und Frauen, die im „Wicküler Eck“ den Abbruch des ersten Erörterungstermins zum geplanten Kraftwerk bilanzieren, inzwischen nur noch mit schallendem Gelächter. Über 6.000 Bürger haben Einwendungen gegen das Kraftwerk vorgebracht, so wohlbegründet und sachlich fundiert, daß die Abgesandten der VEBA während des Erörterungstermins Anfang Oktober immer wieder passen mußten. Nach zweitägigen Anhörungen hatten es die Vertreter des staatlichen Gewerbeaufsichtsamtes aus Recklinghausen satt. Der Vorsitzende Horst Seifert brach das Verfahren ab. Eine „gehaltvolle Auseinandersetzung über die zu erwartenden Auswirkungen des Vorhabens auf seine Umgebung“ sei, so teilte die Recklinghausener Behörde mit, von seiten der VEBA und ihrer Gutachter „nicht möglich“ gewesen. Wegen der mangelhaften Auskünfte der VEBA über die Lage der Emissionsquellen, über Meßerhebungen und über die Auswirkungen des 145 Meter hohen Kühlturmes habe „dem Sinn und Zweck einer ordnungsgemäßen Erörterung nicht mehr Rechnung getragen“ werden können.

Wenn – wie von der VEBA geplant – etwa eine Million Tonnen Steinkohle zusätzlich in Gelsenkirchen in Flammen aufgehen, werden bis zu 7.680 Tonnen Schwefeldioxid, 960 Tonnen Staub, 130 Tonnen Fluor und 770 Tonnen Chlor die jetzt schon schwer gebeutelte Region pro Jahr zusätzlich belasten. Zur Klimakatastrophe trüge das Kraftwerk mit rund 2,7 Millionen Jahrestonnen Kohlendioxid bei. Das etwa 35 Hektar große zukünftige Kraftwerksgelände liegt unweit der Emscher direkt am Rhein-Herne-Kanal und wird im Süden durch die rund 40 Meter hohe Schurenbachhalde und die A42 begrenzt. Südlich der Autobahn verläuft die Stadtgrenze zu Essen. Auf Essener Seite sind die Stadtteile Katernberg, Karnap, Altenessen und Borbeck mit industriellen Emittenten ebenso vollgestopft wie die Gelsenkirchener Seite. Müllverbrennung, Aluminiumhütte, Kokereien, Kraftwerke und, und, und ... „Obwohl sich in der Emscherregion vieles verbessert hat“, heißt es etwa in einem Bericht des Essener Umweltausschusses, „zählt sie nach wie vor zu den durch Industrieemissionen am höchsten belasteten Regionen der Republik.“

Was das für die Gesundheit der hier lebenden Menschen heißt, hat der in Essen-Borbeck praktizierende Kinderarzt Berthold Mersmann mit bedrückenden Fakten belegt. Schon jetzt weist die Region „etwa 50 Prozent mehr Krebstodesfälle als im gesamten Bundesdurchschnitt“ auf. Wegen der immensen Schadstoffbelastung sei es inzwischen für die Kinderärzte in diesem Raum so, „daß wir saisonlos arbeiten“. Die Schwefeldioxidfreisetzung führe zu einer Häufung „an Nasenschleimhaut- und Nasennebenhöhlenentzündungen“. Man habe „mehr Bronchitis“ als anderswo, und in seiner Praxis seien 12 Prozent der Kleinkinder „potentielle Asthmatiker“. Das „ist eine Wahnsinnszahl“. In einer solchen Region, so der Kinderarzt, der durch seine engagierte Aufklärungsarbeit über „Pseudokrupp“ bekannt geworden ist, „dürfte man, wenn man verantwortlich ist, nicht wieder ein Kraftwerk bauen“.

Wie wichtig das für den Kraftwerksbau vorgesehene Gelände für die Luft- und Klimaverhältnisse in diesem Raum ist, zeigt ein Gutachten des „Kommunalverbandes Ruhr“, ein Zusammenschluß sämtlicher Revierstädte, aus dem Jahr 1990. Durch eine weitere Bebauung des Geländes würde, „die Belüftungsfunktion des Gebietes ... empfindlich gestört“. Die „lufthygienisch hohe Vorbelastung läßt eine weitere Ansiedlung von größeren Emittenten in der Emscherniederung als nicht sinnvoll erscheinen“, schreiben die Gutachter. Zu einem fast wortgleichen Befund kommt ein ökologisches Gutachten, das die Stadt Gelsenkirchen selbst zur Vorbereitung der Bundesgartenschau 1997 in Auftrag gegeben hat: Die wichtige Klimafunktion der „Belüftungsschneise Heßler“ werde durch den Bau des Kraftwerkes „eingeschränkt“ oder gehe ganz „verloren“, heißt es da.

Ist das mit „ökologische Erneuerung“ gemeint, von der die sozialdemokratischen Landes- und Stadtpolitiker so viel reden? Nach der Buga 1997 soll das Gelände in den von der „Internationalen Bauausstellung Emscherpark“ geplanten, sich quer durchs Ruhrgebiet ost-westwärts ziehenden „Emscher-Landschaftspark“ einbezogen werden. Die VEBA geht jetzt schon mit dem IBA-Markenzeichen hausieren. Das Kraftwerk in Heßler werde auch „mit dem späteren Emscher-Landschaftspark“ eine „harmonische Verbindung“ eingehen. Dem Berliner Zukunftsforscher und Energieexperten Professor Rolf Kreibich, der dem IBA-Direktorium angehört, schwillt bei solchen Tönen der Kamm. Das Kraftwerk paßt seiner Meinung nach „überhaupt nicht in eine Zukunftslandschaft. Es ist gegen die IBA gerichtet.“

Ganz andere Kunde dringt aus der Düsseldorfer Landesregierung. Der Sprecher des als Genehmigungsbehörde zuständigen Wirtschaftsministeriums, Rudolf Deckert, erklärt die Position seines Hauses so: „Wir begrüßen das Vorhaben, weil hier eine neue, moderne Kraftwerkstechnik zum Einsatz kommt, welche die Umwelt schont und gleichzeitig den Nutzungsgrad steigert.“ So ähnlich liest sich das auch in der VEBA- Werbebroschüre.

Tatsächlich, meint demgegenüber der Gelsenkirchener Ingenieur und Fachhochschulleher Professor Oberholz, der zu den tragenden Säulen der Bürgerinitiative zählt, könne von einer modernen Anlage „nicht die Rede sein“. Bei dem geplanten Kraftwerk handele es sich um die „bekannte konventionelle Technik“. Das einzig Neue sei die Rauchgasabführung durch den Kühlturm. An die fortschrittlichste Kohlekraftwerkstechnik, an das sogenannte Gas- und Dampfturbinenkraftwerk (GuD), das allein bei der Stromerzeugung einen Wirkungsgrad von 52 Prozent möglich mache, traue sich VEBA nicht ran, „weil die damit keine Erfahrung haben“.

Wenn man die GuD-Technik, die auch im Klimabericht der Landesregierung als das optimale Verfahren gelobt wird, mit der Wärmeauskopplung kombiniere, dann komme man leicht auf einen Wirkungsgrad von knapp 90 Prozent. Während ältere Kohlekraftwerke bei der reinen Stromerzeugung einen Wirkungsgrad von 30 bis höchstens 40 Prozent erreichen, verspricht VEBA in Gelsenkirchen eine Verbesserung auf 45 Prozent. Doch dieser von Kritikern ohnehin bezweifelte Wert würde immer noch bedeuten, daß 55 Prozent der eingesetzten Energie in die Luft geblasen würde.

Solch gewaltiger Energieverschwendung hat die SPD, glaubt man ihren parteipolitischen Beschlüssen, aus „Verantwortung für Mensch und Umwelt“ längst den entschlossenen Kampf angesagt. Die „effiziente Nutzung fossiler Energieträger (Kraft-Wärme- Kopplung)“ und die „Dezentralisierung der Energieversorgung und -erzeugung“, so lautet der erst im letzten Jahr gefaßte Bundesparteitagsbeschluß, sei „das bessere und realistische Konzept“.

Tatsächlich kann man mit kleinen stadtteilnahen Blockheizkraftwerken einen Wirkungsgrad von weit über 80 Prozent erzielen. In dem Gelsenkirchener Großkraftwerk geht das nicht. Zwar will die VEBA die Anlage so auslegen, „daß 300 Megawatt Fernwärme auskoppelbar sind“, aber es fehlt am Netz und an Abnehmern. Der angrenzende Bereich ist mit Fernwärme, das räumen auch die SPD- Politiker vor Ort ein, ausreichend versorgt. „In erster Linie“, so Günter Schulze von der Gelsenkirchener SPD, „soll da Strom erzeugt werden.“ Die Bürgerinitiative wertet das Fernwärmeangebot denn auch schlicht als „Etikettenschwindel“.

Die Gelsenkirchener sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) spricht inzwischen von „einer unheilvollen Diskussion“. Zusammen mit dem VEBA-Betriebsrat sind die AfA-Mitglieder der Meinung, daß das Kraftwerk im Park hilft, den „Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie zu überwinden“. Klaus Kall, Lehrbeauftragter für Umweltrecht an der Universität Essen und Rechtsvertreter der Bürgerinitiative, wertet solche Stimmen als die von „wahren Träumern“. Die geplante „Uraltmöhre“ werde „unter dem Stichwort Gelsenkirchener Barock in die Geschichte der Genehmigungsverfahren eingehen“.

Ein Kraftwerk mit kristalliner futuristischer Glasverkleidung und vorgelagertem Tropicanum eine „Uraltmöhre“? Davon mag Gelsenkirchens Oberstadtdirektor Dr. Bussfeld nichts hören. „Das hat es noch nicht gegeben, daß, integriert in das Gartenschaugelände, ein komplett neues Kraftwerk errichtet werden soll.“ Eine „riesige Herausforderung“ sei das.

Im „Wicküler Eck“, einer authentisch Gelsenkirchener Kneipe, ausgestattet mit allen blau-weißen Devotionalien gläubiger Schalke- Fans, arbeitet Woche für Woche ein „bunter Pflockenhaufen“ daran, daß diese „Herausforderung“ schon das Erörterungsverfahren nicht überstehen möge. Anfang nächsten Jahres planen sie ein Fest. „Das muß sein“, sagt Ingrid Wülscheid. „Entweder haben wir es bis dahin geschafft und allen Grund, den Sieg zu begießen, oder wir brauchen die Feier zum Wiederaufrichten.“

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