„Lotta continua“-Prozeß: Alles neu

Oberstes Gericht hebt Verurteilungen gegen Adriano Sofri und Genossen wegen Formfehler auf/ Ein Politprozeß voller Merkwürdigkeiten/ „Kronzeuge allein genügt nicht“  ■ Aus Rom Werner Raith

Der Hauptangeklagte, angeblich heimtückischer Anstifter eines Mordes, wollte „an Gerechtigkeit in unserem Lande“ sowieso „nie so recht glauben“. Nun ist sein Nichtglaube „etwas geringer geworden“. Der Hauptankläger, vor dem Obersten Gericht durchgefallen, erklärt sich dennoch „heiter und ohne schlechtes Gewissen“. Er hofft nun auf „die nächste Runde“: Italiens verwickeltster politischer Prozeß ging am Freitag abend erstmal mit einem „alles von vorne“ zu Ende.

Die wegen des 1972 erfolgten Mordes an Polizeikommissar Luigi Calabrese 1988 verhafteten und in 1. wie 2. Instanz zu jeweils 22 Jahren verurteilten ehemaligen Führer beziehungsweise Mitstreiter der linksradikalen Studenten- und Arbeitergruppe „Lotta continua“ Adriano Sofri, Ovidio Bompressi und Giorgio Pietrostefani bekamen vom Kassationsgerichtshof bescheinigt, daß ihr Prozeß mit allerlei Formfehlern behaftet ist und daher von der 1. Instanz an neu aufgerollt werden muß.

Ein skurriles Verfahren um einen Polizistenmord

Adriano Sofri, mittlerweile einer der bekanntesten Politpublizisten Italiens, hatte während des Prozesses erklärt, daß der getötete Polizeikommissar seinerzeit sicher auch in „Lotta continua“ zu den meistgehaßten Männern des Landes gehört hatte: Man habe ihm die Schuld am tödlichen Fenstersturz eines nach dem rechtsterroristischen Attentat auf die Landwirtschaftsbank in Mailand 1969 völlig unschuldig verhafteten Anarchisten zur Last gelegt. Doch es habe weder Überlegungen zur Ermordung des Polizisten gegeben noch auch nur Andeutungen eines entsprechenden Auftrags. Der angebliche Täter und Kronzeuge Leonardo Marino, der aus Süditalien kommt und, wie der Prozeß zeigte, in der dort weithin üblichen Art wohl nicht so ganz genau zwischen wirklich erteilten und bloß vermeintlicher Auftragserteilung unterscheidet, gab zahlreiche Details an, die nach menschlichem Ermessen nur ein Mittäter wissen konnte. Doch dann irrte er sich bei entscheidenden Einzelheiten – der Tatzeit, der Waffe, und dem Fluchtweg.

Der Prozeß entwickelte sich in mehrfacher Hinsicht zu einem Unikum. Nach der Verurteilung in der 1. Instanz hatte Sofri auf Rechtsmittel verzichtet, was die italienische Justiz in eine schwere Denkkrise stürzte: Dadurch wurde das Urteil gegen Sofri rechtskräftig, blieb jedoch gleichzeitig wegen der Revision der anderen Angeklagten noch offen. Nach schwierigen Erörterungen entschieden die Richter der 2. und dann der obersten Instanz, daß man so tun müsse, als habe auch Sofri Rechtsmittel eingelegt. So durfte Sofri, der eigentlich hinter Gittern hätte verschwinden müssen, in Freiheit bleiben.

Hungerstreik führt zu Novum in der Rechtsgeschichte

Doch Sofri bereitete den Richtern erneut Unbehagen: Als sein Prozeß im Kassationsgerichtshof dem an sich dafür zuständigen 1. Senat – der sich bereits zwei Monate mit dem Fall befaßt hatte – wegen angeblicher Überlastung entzogen und dem 6. Senat zugeteilt wurde, vermutete Sofri eine Manipulation. Der 1. Senat war bekannt für seine extreme Abneigung gegen Kronzeugen-Urteile, der 6. für die entgegengesetzte Tendenz. Sofri trat in einen Hungerstreik und erreichte, einmalig in der italienischen Rechtsgeschichte, dadurch eine Modifikation: Nun wurde die Gesamtheit aller Senatsvorsitzenden zu einem Oberkollegium zusammengerufen, das den Fall zu entscheiden hatte.

Zwar ist die Urteilsbegründung, wie in Italien üblich, nicht mit dem Verdikt vom Freitag verkündet worden, doch die Hauptrüge besteht nach Auskunft des Richterkollegiums darin, daß das Urteil fast ausschließlich auf der Aussage des angeblichen Mittäters Leonardo Marino basiert. Dieser hatte sich erst 16 Jahre nach der Tat ganz unvermittelt und angeblich aus einer Gewissenskrise heraus als Kronzeuge zur Verfügung gestellt (und dafür einen Strafnachlaß von sechs Jahren bekommen), in der Verhandlung aber immer wieder den Eindruck erweckt, als sei er von Hintermännern für seine Rolle präpariert worden. Hinreichende Indizien, die Marinos Aussagen stützten, gab es nicht.

Statt dessen kamen geradezu haarsträubende Einzelheiten über die Vernichtung von Beweismaterial ans Licht: Mal mußte die Polizei zugeben, daß die Tatprojektile verschwunden sind, dann stellte sich heraus, daß der Kleinwagen Calabreses, vor dem der Polizist ermordet worden war, just während des Prozesses versteigert und nicht mehr auffindbar war. Kontroversen gab es über die Frage, ob es während der angeblichen Auftragserteilung an Marino geregnet habe oder nicht, ob bei der zeitgleich stattfindenden Diskussion bestimmte Slogans gerufen wurden oder nicht ...

Ein einziges Chaos mit dubiosen Hintergründen

Bei diesem Durcheinander kam schon bald der Verdacht auf, mit der Schuldzuweisung gegen die ehemaligen „Lotta continua“- Kämpfer solle noch einmal die längst aufgelöste Politformation getroffen werden, genauer der Teil davon, der inzwischen in ansehnliche Positionen eingerückt war: Tatsächlich sind aus keiner anderen Gruppe so viele Parlamentarier, Wissenschaftler und Manager hervorgegangen wie aus „Lotta continua“.

Einige von ihnen, so der für die Grünen ins Parlament gewählte Senator Marco Boato, zeigten sich aus Solidarität mit Sofri selbst als „Anstifter“ an – ohne daß dies zu einer Anklage führte. Besonders getroffen fühlte sich der damalige stellvertretende Ministerpräsident und derzeitige Justizminister Claudio Martelli, der wegen seiner engen Freundschaft zu Sofri (und seiner Nähe zu „Lotta continua“ während seines Studiums) lange Zeit sogar eine Intrige gegen sich selbst vermutete.

Martelli äußerte denn auch „höchste Genugtuung“ über den Spruch der Richter. Doch wie Sofri weiß auch er, daß die Sache damit längst nicht ausgestanden ist. Die unteren Instanzen, an die die Sache nun wieder geht, sind nämlich– wohl auch der Einfachheit wegen – heute in Italien nahezu durchweg geneigt, ihre Urteile auch auf noch so spärliche Aussagen von „Kronzeugen“ zu stützen. Insofern könnte Sofri und Genossen nun ein weiterer voller Rechtszug mit Verurteilungen bis zur erneuten Prüfung durch das Kassationsgericht blühen. Präzedenzfälle dafür gibt es genug: In Sizilien beispielsweise mußte ein Prozeß wegen Richtermordes nicht weniger als siebenmal wiederholt werden, bis das Urteil auch der letztinstanzlichen Prüfung standhielt.