piwik no script img

Tote Arbeiter stellen keine Ansprüche

Britische Regierung will Bericht über Berufskrankheiten verzögern/ 200.000 Menschen demonstrieren für die Bergbauindustrie/ Major stellt Vertrauensfrage im Unterhaus  ■ Aus London Ralf Sotscheck

John Majors Vision einer „klassenlosen Gesellschaft“ ist Realität geworden — aber anders, als es sich der britische Premierminister vorgestellt hat. Am Sonntag nachmittag demonstrierten nach Schätzungen der Polizei 150.000 Menschen in der Londoner Innenstadt für das Überleben der Bergbauindustrie. Die Veranstalter sprachen sogar von über 200.000 TeilnehmerInnen.

Und es waren keineswegs nur Bergarbeiter und Beschäftigte benachbarter Branchen, die im strömenden Regen gegen die geplanten Stillegungen von 31 Bergwerken protestierten. Der Verband der Kleinunternehmer war ebenso vertreten wie Angestellten- und Lehrergewerkschaften, die Konstrukteure des Atom-U-Boots „Trident“ ebenso wie die Anti- Atom-Bewegung CND und die Grünen.

Der völlig durchnäßte NUM- Gewerkschaftssekretär Arthur Scargill sagte: „Diesmal kämpfen die britischen Kumpel nicht nur für die Jobs in der Bergbauindustrie. Laßt uns nicht im Stich. Unterstützt uns, bis diese Entscheidung rückgängig gemacht wird.“ Der Chef des Dachverbands der Gewerkschaften (TUC), Norman Willis, fügte hinzu: „Kein Bergwerk, keine Fabrik, kein Geschäft, Büro oder Krankenhaus, keine Schule oder Eisenbahn ist sicher. Kein einziger Job ist sicher.“ Die Regierung habe das am vergangenen Freitag bewiesen, als sie die Schließung von fünf Londoner Krankenhäusern ankündigte. 20.000 Arbeitsplätze sind dadurch in Gefahr.

Bei den Bergwerken will die Regierung offenbar vollendete Tatsachen schaffen. Obwohl man am Mittwoch vor der Unterhaus- Abstimmung noch die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen „Konsultationsperiode“ von 90 Tagen versprochen hatte, in denen die Produktion normal weiterlaufen sollte, werden zehn der 31 Bergwerke nun doch bereits am nächsten Freitag geschlossen. Darüber hinaus wurde dem Sunday Mirror vorgestern ein Brief zugespielt, in dem Beamte aus dem Industrieministerium ihrem Minister Michael Heseltine empfehlen, einen Bericht des unabhängigen „Rats für Berufskrankheiten“ zu verzögern. Der Rat fordert nämlich die Anerkennung von Bronchitis und Lungenödemen als Berufskrankheit bei Bergarbeitern. „Je länger die Entschädigungsansprüche auf dem Rechtsweg verzögert werden, desto kleiner ist die Zahl der potentiellen Kläger, und desto geringer sind die Kosten für den Staat“, heißt es in dem Brief. Der Labour-Sprecher für Behinderte, Barry Sheerman, sagte: „Das ist ein kaltblütiger und zynischer Versuch, Zeit zu gewinnen in der Hoffnung, daß Menschen mit legitimen Ansprüchen in der Zwischenzeit sterben.“

John Major, der am Wochenende den 50. Jahrestag der Schlacht bei El Alamein in Ägypten feierte, hat den Widerstand gegen die Schließung der Bergwerke unterschätzt. Selbst in seiner eigenen Partei ist seine Autorität schwer angeschlagen. So droht ihm das vorzeitige Ende seiner Karriere, wenn in acht Tagen die Maastrichter Verträge dem Unterhaus zur Vorabstimmung vorgelegt werden. Major hat das Votum zur Vertrauensfrage erklärt und für den Fall einer Niederlage Neuwahlen angekündigt. Zwar haben die Liberalen Demokraten bereits ihre Zustimmung ausgedrückt, doch die Labour Party wird sich vermutlich noch in dieser Woche dagegen entscheiden. Wenn auch die meisten nordirischen Abgeordneten wie bereits bei der zweiten Lesung im Mai gegen die Verträge stimmen werden, reichen schon 40 Torie-Rebellen, um Major zu Fall zu bringen. Und die dürften nicht schwer zu finden sein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen