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Verfolgt, vertrieben, verkauft

Deutschland löst das „Zigeunerproblem“ mit Geld/ Ab 1. November werden über 43.000 Roma nach Rumänien zurückgeschickt/ Der Großfamilie Caldera droht nach zweijähriger Flucht die Abschiebung  ■ Von Anita Kugler

Konstantin Caldera ist ein Rom aus Rumänien, seine Frau Eljena ist eine Roma. Mit Alfred Erdölli, dem Vorsitzenden der Roma- Union Berlin, bin ich unterwegs, er will sich umsehen, hören, wie es seinen Leuten geht, die er Zigeuner nennt. „Es gibt in Deutschland kein Asylbewerberproblem“, sagt er, „sondern ein Zigeunerproblem.“ Dies müsse man benennen, vielleicht rühre sich dann das schlechte Gewissen der Deutschen, die vor einem halben Jahrhundert schon einmal das „Zigeunerproblem“ lösten, indem sie etwa fünfhunderttausend vergasten, erschlugen, bei medizinischen Experimenten zu Tode quälten oder durch Arbeit umbrachten. Konstantin Caldera verleugnet seine Identität nicht. Denn er und seine ganze Familie mußten in Deutschland Asyl beantragen, weil sie Zigeuner sind und nur deshalb in Rumänien geschunden wurden. Wir treffen Vater, Mutter, Kleinkind und drei Halbwüchsige, Bruderkind, Ehefrau und Säugling in einem Flüchtlingsheim im Berliner Norden. Seit drei Monaten teilt sich die Großfamilie einen 32-Quadratmeter-Raum. Sie nennen es ihr „Zuhause“. Die Metallbetten mit den Rot-Kreuz-Einheitsdecken stehen dicht an dicht, auf einigen liegen abgegrabbelte Plüschtiere aus der Wohltätigkeitssammlung, an der Wand hängt die Vision: eine Versicherungsreklame, eine glückliche Familie schreitet in die Zukunft. Alfred Erdölli fragt, warum die neun Personen da und wie sie hergekommen sind. Ein halbstündiger Wortschwall ist die Reaktion, keiner habe sie bisher nach ihrer Geschichte befragt. Erdölli schlägt die Hände zusammen, schüttelt den Kopf: „Oioioi, unglaublich“, wiederholt er immer wieder. Konstantin, übersetzt er später in Kurzfassung, ist 52 Jahre alt. Sein ganzes Leben habe er im Dorf Braschov verbracht, habe acht Jahre lesen und schreiben gelernt, später immer gearbeitet. Bis Ceausescus Sturz sei er Traktorist in einer Kolchose gewesen, seine Frau Landarbeiterin. Unter Iliescus Herrschaft wurden beide entlassen, ohne Entschädigung, ohne Rente, wie alle Zigeuner im ganzen Land. „Rumänien den Wlachis und nicht den Ziganes“, sei die Parole gewesen. „Wlachis“, so nennen sich die nationalistischen Rumänen, die, die aus der Walachei stammen. Die Kinder wurden von den Lehrern und den rumänischen Klassenkameraden blutig geschlagen, später aus der Schule gejagt. Als die Eltern sich bei der Polizei beschwerten, erhielten sie statt Schutz Prügel. Die Familie hatte nichts mehr zu essen, die kommunalen Obrigkeiten drehten der Siedlung, in der die Ziganes lebten, den Strom und das Wasser ab.

Im Dezember 1990 brannte es dann, in Braschov fand einer der etwa fünfundzwanzig Pogrome statt, die die Gesellschaft für bedrohte Völker dokumentiert hat. Das Haus von Konstantin Caldera blieb damals noch stehen, aber die Familie fürchtete um ihr Leben. Sie wollten weg, aber wohin? Und Eljena lag in den Wehen.

So kam es, daß Konstantin Ende Dezember 1990 sich alleine Richtung Westen durchschlug. Er sollte einen Weg über die Oder erkunden, dann zurückfahren und die Familie nachholen. Den Weg fand er, damals war der Fluß noch kaum geschützt. Als er im Februar 1991 wieder in Braschov ankam, fand er sein Haus nicht mehr und erst Wochen später seine Familie halbverhungert im Wald. Eljena berichtet, was geschehen war: Die ehemaligen Arbeitskollegen ihres Mannes seien mit Traktoren und Baggern gekommen, um ihr Haus niederzufahren. Sie hätten alles zerstört und sie mit Steinen und Brandsätzen verfolgt. Wenn die Calderas sich noch einmal in der Gegend blicken lassen sollten, würden sie umgebracht werden, hieß es. Deshalb seien sie weggerannt, nur mit dem, was sie auf den Leibern trugen. Ein Verwandter sei ermordet worden, andere schwer verletzt.

Aus dem rumänischen Versteck führte Konstantin seine Großfamilie über die Grenze in die polnischen Wälder. Als sie im Frühling 1991 endlich an der Oder ankamen, glich der Fluß schon einer Festung. Hubschrauber mit Flutlichtscheinwerfern kreisten nachts über ihnen, und Geld für einen Schlepper hatten sie nicht. Anderthalb Jahre irrten sie von Stettin bis nach Görlitz, immer die Oder rauf und runter. Sie lebten auf und von Müllkippen, fanden manchmal Arbeit für wenige Zlotys. „Die Polen, die selbst so arm sind, haben uns geholfen“, sagt Eljena.

Vor drei Monaten klappte es dann. Vier Tage lang lag die Familie an einer seichten Stelle der Oder auf der Lauer. Um nicht entdeckt zu werden, durften die Halbwüchsigen nicht lärmen und die Babys nicht weinen. Und sie haben nicht geweint, obwohl sie vier lange Tage, mitten in der Sommerhitze und in Sichtweite des Flusses, nichts zu trinken und nichts zu essen bekommen hatten. Aber sie schafften es. Die Kinder wurden getragen, den Trägern stieg das Wasser bis zum Hals.

Die hundert Kilometer von der Oder bis nach Berlin legte die Großfamilie zu Fuß zurück. Als sie Anfang August ankamen, besaßen sie keine Schuhe mehr. Der einzige Besitz war ein Taschenbuch „Rumänisch–Deutsch“. Die Vokabeln „Duldunga“ (Duldung), „Ofental“ (Aufenthalt) und „Asil“ (Asyl), stehen nicht in diesem Buch. Aber die Familie Caldera hat es beantragt. Die Ausländerbehörde hat ihnen Ersatzpapiere ausgestellt, was, wenn es zu einem Asylverfahren kommt, gegen sie sprechen wird. Die Wahrheit ist, daß diese Familie noch nie Papiere besessen hat: „Wir waren immer zu arm, um rumänische Dorfschulzen bestechen zu können“, sagt Eljena.

Jetzt sitzen sie in einem der größten Asylbewerberheime Berlins, bekommen Essen und ein bißchen Taschengeld für Kleidung, Zahnpasta und Busfahrkarten. Als Erdölli sie fragt, ob sie wie so viele andere verarmte Roma betteln gehen, verneinen sie heftig. Sie halten ihm ihre Hände entgegen. Die durch harte Arbeit gewachsenen Schwielen sind so dick, daß es ihnen kaum gelingt, die Hand zur Faust zu ballen. Sie können und wollen arbeiten, dafür lernen sie jeden Tag dreißig neue deutsche Vokabeln. Doch das wird ihnen nichts nützen. Die Calderas sind Prototypen der etwa fünfzigtausend rumänischen Roma in Deutschland, die hier als „Scheinasylanten“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ staatlich diskriminiert und von aufgebrachten Bürgern bedroht werden. Sie werden nicht, wie die propere Familie auf der Versicherungswerbung, einer lichten Zukunft entgegengehen, sondern vermutlich nach Rumänien repatriiert. „Verkauft und deportiert“, korrigiert Erdölli.

Am 24. September unterzeichnete Innenminister Seiters in Bukarest den sogenannten „Rückführungsvertrag“. Darin verpflichtet sich Rumänien, die in Deutschland abgelehnten rumänischen Asylbewerber ab dem 1. November zurückzunehmen. Auch die ohne Paß. Rumänien erhält als Gegenleistung dafür 30 Millionen Mark „Wiedereingliederungshilfe“. Früher, sagt Erdölli, habe Deutschland Millionen dafür bezahlt, daß Rumänien den Giftmüll abnehme, jetzt bezahlen die Deutschen Millionen dafür, daß sie den „Menschenmüll“ loswerden. Das will er nicht hinnehmen und denkt dabei an internationalen Protest und eine Aktion „Fluchtburg“.

Die Tage der Familie Caldera in Deutschland sind vermutlich gezählt. In dem Flüchtlingslager, ein Asylbewerberheim der PhaseI, warten sie auf den Bescheid, in welchem Bundesland und in welcher Stadt sie das Asylverfahren beantragen können. Vielleicht kommen sie dann, als Asylbewerber der PhaseII, nach Rostock, Greifswald, Eberswalde, Darmstadt oder Hildesheim. In all diesen Städten wird ihnen der Haß entgegenschlagen. „Zigeuner grillen Katzen“, wird es wieder heißen, scheißen in die Grünanlagen und stehlen die Wäsche von der Leine. Und dabei gibt es nicht einen einzigen Beweis dafür, sagt Paul Schuster, rumänischer Schriftsteller und seit vierzig Jahren Kenner von Roma-Traditionen, daß irgendwo tatsächlich eine Katze im Kochtopf gelandet ist, „so wie in Deutschland aller Orts, in den carepaketlosen Hungerjahren nach dem Krieg“. Und wie einfach wäre die sanitäre Entsorgung, meint Erdölli, wenn die Asylheimbetreiber romakundige Betreuer vor Ort hätten, die ihnen sagen könnten, daß die Entleerung in der Nähe von Küchen oder auch möglichen Mitwissern ein Jahrhunderte altes Tabu ist. „Roma- Frauen sagen, sie gehen Blumen pflücken, wenn sie den Weg zur Toilette meinen.“

Aber die kulturellen Mißverständnisse sind Kleinkram im Verhältnis zu dem, was die rumänischen Roma bei den deutschen Behörden erwartet. Dort werden – seit Innenminister Seiters und das Auswärtige Amt die Parole ausgegeben haben, Rumänien sei ein „politisch sicheres Land“ – die Asylanträge en gros abgeschmettert. Von den 57.463 Rumänen, die seit Jahresanfang einen Antrag gestellt haben, wurden 46.000 Anträge bereits abgelehnt. Mindestens 43.000 davon sind von Roma. Die allerwenigsten von ihnen finden Rechtsanwälte, die ihnen helfen, vor Gericht zu ziehen. Aber auch das nützt ihnen nichts. Am 13. Mai dieses Jahres lehnte das Kreisgericht Frankfurt/Oder den Asylantrag der Romafrau D. in zweiter Instanz ab. Zwar erkenne das Gericht, daß es in Rumänien zu „Übergriffen“ gegen Angehörige der Volksgruppe Roma gekommen sei, aber dies wären „lokale Vorkommnisse“ gewesen. Eine „Gruppenverfolgung“ lasse sich nicht feststellen, es fehle auch die „erforderliche Intensität und die Häufigkeit etwaiger Verfolgungshandlungen“.

Elisabeth Reese, Berliner Flüchtlingsberaterin von „Asyl in der Kirche“ berichtet, daß in jedem Flugzeug nach Bukarest Dutzende von abgeschobenen Roma sitzen, die am Airport einfach ausgekippt und ihrem Schicksal überlassen bleiben. Sie hat es vergangene Woche selbst gesehen und auch, daß überall in der Hauptstadt Hitlers Verbündeter, der rumänische Diktator Antonescu, mit Straßenumbenennungen geehrt und als „Volksheld“ gefeiert wird. Antonescu hat 1943 die „Ausrottung“ aller Zigeuner angeordnet, mindestens 36.000 ließ er nach Auschwitz deportieren.

Konstantin Caldera und seine Angehörigen wissen, daß sie in Rumänien noch einmal Glück gehabt haben. Der „Übergriff“ gegen sie war nicht tödlich „intensiv“ und hat nicht ihre Körper zerstört. In einem Krankenhaus in Eisenhüttenstadt liegt seit Mitte September der zehnjährige Trajan Ciuar aus dem Dorf Sinceni. Rumänische Landarbeiter warfen Benzinflaschen in das Haus seiner Familie. Der Junge brannte am ganzen Körper. Demnächst wird er in einer Spezialklinik in Berlin operiert werden, damit er irgendwann wieder laufen kann. Auch Trajan Ciuar ist nach Behördenverständnis kein politisch Verfolgter. Wie soll die Familie Caldera es dann sein! „Bevor Deutschland uns nach Rumänien zurückschickt, bringe ich mich um“, sagt Konstantin, und Frau Eljena nickt. Die 18jährige Kelzma wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Nur ihr, in einer polnischen Absteige geborener, Säugling weiß nicht, daß die Zukunft dunkel ausschaut. Das Kind liegt an ihrer Brust und schmatzt genauso satt, wie alle Säuglinge der Welt.

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