■ Salman Rushdie in Bonn: Kinkel war nicht da
Die komisch-bizarre Seite seines Verfolgtendaseins, auf der Salman Rushdie selbst insistiert, ist um eine Episode reicher. Klaus Kinkel, unser Champion in Sachen menschenrechtsorientierter Außenpolitik, konnte den ungebetenen Gast aus England nicht empfangen. Er weilt zu Besuch in Peking, wo er – sein Gewissen läßt keine andere Lösung zu – auch die Menschenrechtsverletzungen in China „zur Sprache bringen“ wird. Die alten Herren werden dies höflich zur Kenntnis nehmen, womit dieser Punkt der Tagesordnung erledigt wäre. Schließlich ist Chinas Regierung zivilisiert. Sie bringt ihre Untertanen nur innerhalb der Landesgrenzen um.
Killerkommandos als Instrumente zur Lösung politischer Differenzen sind keineswegs eine Erfindung der iranischen Fundamentalisten. Aber diese Kunst blühte bisher im verborgenen. Am Mordaufruf der Teheraner Mullahs ist neu nur sein öffentlicher Charakter, seine juristische Rechtfertigung und daß er sich weltweit an jeden Gläubigen richtet. Offenkundig verletzt dieser Aufruf nicht nur das „klassische“ Völkerrecht, er widerspricht auch den UNO-Menschenrechtspakten. Den Iran ficht das nicht an. 1989 verurteilte die UNO-Menschenrechtskommission die Teheraner Machthaber wegen massiver Folterungen, unmenschlicher Strafnormen und summarischer Hinrichtungen. Die Regierung des Iran entgegnete, daß es der Kommission „an jedem Verständnis für andere Gesellschaftsordnungen fehlt“. Hier liegt in der Tat der Kernpunkt der Auseinandersetzung – auch im „Fall Rushdie“. Gelten Menschenrechte universell, oder bricht sich ihr Anspruch an rivalisierenden Ansprüchen, sei es religiöser, kultureller oder politischer Natur? Angesichts der notwendigen Konfrontation in diesen Fragen haben nicht wenige westliche Politiker den Rückzug angetreten. Dieser Linie der Selbstbeschränkung zufolge haben Opfer der politischen Verfolgung in Peking oder Teheran einfach das Pech gehabt, im falschen Kulturkreis zu leben.
Außenminister Kinkel gehört nicht zu diesen Defätisten. Fordert er doch die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte mit Sanktionsgewalt und individuellem Klagerecht. Eine gute Idee. Nur – in the long run we all are dead und Salman Rushdie vielleicht noch etwas früher. Solange die lichte Zukunft auf sich warten läßt, bleibt nichts anderes übrig, als Staaten wie den Iran unablässig unter Druck zu setzen. Salman Rushdie schlägt keineswegs vor, die Wirtschaftsbeziehungen zum Iran zu kappen. Er beharrt nur darauf, sie zu nutzen. Ein Politiker wie Kinkel, der die Linie „Wirtschaftsinteressen und Menschenrechtsfragen sind zwei Paar Stiefel“ zurückgewiesen hat, ist uns vor wie nach Rushdies Besuch eine Erklärung schuldig: Was hindert eigentlich die EG-Staaten an einer koordinierten politischen Intervention in Teheran zugunsten der Aufhebung des Mordbefehls?
Rushdies Ein-Mann-Überlebensdiplomatie enthält mehr als ein nur zu verständliches Eigeninteresse. Sie verweist auf die simple Tatsache, daß sich die oft beschworene „Welle“ der Flüchtlinge und Schutzsuchenden aus lauter Individuen zusammensetzt. Sich mit einem Einzelnen im Unglück zu solidarisieren schafft symbolische Wirkungen. Politiker, die sich mit Rushdie trafen, produzierten solche symbolischen Gesten, nützlich für den Dichter, aber auch nützlich für sie selbst – und nicht besonders kostspielig. Hoffen wir, daß die Staatsleute, die mit Rushdie plauderten, sich bald dazu aufraffen, bei einer in Rostock oder in Quedlinburg mit knapper Not davongekommenen Ausländerfamilie zum Abendessen zu erscheinen. Privat, aber mit möglichst viel Publicity. Auch das wäre symbolträchtig, freilich etwas teurer. Christian Semler
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