Autistische Wettkönige, zum vorletzten

■ Pferderennbahn schließt bald die Wettschalter / Was macht der Zocker im Winter

Autistische Wettkönige, zum vorletzten

Pferderennbahn schließt bald die Wettschalter / Was macht der Zocker im Winter?

Der schwarzbraune Hengst trägt das Haupt hoch erhoben, immer wieder reißt er am Halfter. Die Pferdepflegerin hat einige Mühe, dieses feurige Temprament um das Rondell zu führen. Schnell ist die Entscheidung für die umstehenden Wetter gefallen: „Der macht's“, ruft ein Familienvater in die Runde seiner Lieben, die gekommen sind, um am vorletzten Renntag auf der Bremer Galopprennbahn in der Vahr noch einmal ihr Glück zu versuchen.

Diese Spezies des Pferdenarren kommt typischerweise mit Kind und Kegel und braucht bei der Auswahl des richtigen Gauls die Bestätigung seines familiären Anhangs. Die läßt in diesem Fall auch nicht lange auf sich warten: „Ja, Papa das Pferd gewinnt bestimmt.“ Dieser Sonntagnachmittag-Familienausflugs-Wettkönig setzt für gewöhnlich auf „Platz“, das heißt er wettet darauf, daß sein Favorit Platz eins, zwei oder drei belegt.

Doch wenn sich der Sonntagsausflügler mit dem professionellen Blick in die Halle zu den Kassen begibt, um seinen ausgefüllten Wettschein abzugeben, wird er plötzlich zum ganz kleinen Licht. Denn dort verbringen die richtigen Zocker ihren Tag. Autistisch stehen sie in irgendeiner Ecke, den Blick starr auf die Wettzeitung oder einen der Bildschirme gerichtet, die die Rennen übertragen und zeigen, wie die Wetten stehen. Hin und wieder saugen ihre Lippen an den unvermeidlichen Zigarren- oder Zigarettenstummeln. Ab und zu greifen sie in die Innentasche ihrer Jacke und nuckeln am Flachmann. Spülen sie den Frust über ihre Verluste herunter?

Diesen „Profis“ reicht die persönliche Einschätzung der Pferde am Rondell für ihre riskanteren Zweier- oder Dreierwetten nicht mehr aus. Wettstrategien werden ausgetauscht, die Favoriten der verschiedenen Tageszeitungen verglichen und die Rennzeitung intensiv studiert. Bei den Zweier- oder Dreierwetten legt sich der Wetter auf die genaue Reihenfolge der siegreichen Pferde fest. Er muß genau angeben, welche Stute gewinnt und welcher Hengst auf dem zweiten beziehungsweise dritten Platz ins Ziel kommt. Dafür bekommt er für seine niedrigere Gewinnchance eine höhere Gewinnspanne.

Der letzte Akt eines jeden Rennens ist dann das Zuschauen auf der Rennbahn. Hier stehen die Wetter dicht an den Zaun gedrängt und fiebern mit „ihren“ Pferden mit. Je nach Wettyp das Kind auf den Schultern oder die Hand um das Programm gekrampft. Manche verfolgen das Rennen mit dem Feldstecher, andere lauschen dem Kommentator aus dem Lautsprecher. Besonders beim Einlauf in die Zielgerade schlagen die Wogen der Gefühle hoch. Schrille Schreie werden ausgestoßen, um den eigenen Tip anzufeuern. Schließlich beklatscht man den schweißnassen Sieger auf dem Weg zu den Boxen. An diesem vorletzten Renntag wurden an den Wettschaltern insgesamt 450. 000 Mark umgesetzt. Das letzte Mal in diesem Jahr kann man sein Geld auf der Bremer Galopprennbahn am 22. November verlieren — oder gewinnen? Stefan Krüger