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■ „Wrangelstraße 107“ vom Theater Gaukelstuhl in der Ölberg-Kirche

Berlin im Jahre 2030, einige Jahre nach der großen Katastrophe – die Menschen haben Angst. So die Ausgangssituation für das neue Jugendtheaterstück des Theaters Gaukelstuhl: „Erst wurden die Menschen wahnsinnig, dann die Natur“, lautet die noch konkreteste Angabe zur Katastrophe, die die Menschheit in zwei Lager gespalten hat: die da draußen und die da drinnen. Konkreter muß das Szenario auch gar nicht ausgesponnen werden; niemand braucht besonders viel Phantasie, um sich vorzustellen, was passiert sein könnte, und das Unausgesprochene steht allemal sehr viel schauriger im Raum. Seltsam verwirrend bleibt manches in der „Wrangelstraße 107“. Und genau das macht diese Produktion so überaus spannend. Ein guter Science-fiction, von plakativen Messages keine Spur.

Rosi, Rudi, Patty Tiger und Fuzzy Harvard leben auf engstem Raum zusammen und verstecken sich vor der Außenwelt, wo seit der Katastrophe das Gesetz des Stärkeren gilt und Banden raubzugartig die Gegend unsicher machen. Nur selten wagen sie sich ans Tageslicht – oder an das, was davon übriggeblieben ist –, um Tauben für den Verzehr zu schießen. Bei einem dieser Beutezüge findet Rudi einen verletzten Mann – Hank 7. Er ist der erste Fremde seit langem, und die Gemeinschaft behandelt ihn zunächst voller Angst und Mißtrauen. Doch Hank 7 lockert schon bald die starr eingespielten Verhaltensmuster der Gemeinschaft untereinander, löst Diskussionen aus und reinigende Streitgespräche.

Beängstigend bleibt die Situation jedoch allemal. Aus einem überdimensionalen Fernseher, der über den Köpfen der Eingebunkerten thront, empfangen die fünf kryptische Nachrichten aus Deutschland, Spanien oder den USA. Von wem die Nachrichten kommen oder an wen sie gerichtet sind, bleibt unklar. Sie verkörpern eine übergeordnete, autoritäre Bürokratie, die zwar längst als vernichtet gilt, deren Reste jedoch immer noch, wie ein amoklaufender Körper ohne Kopf, den Tod bringen könnten.

Furcht beherrscht die Szenerie, Angst vor einem diffusen Draußen und vor allem vor sich selbst und den anderen. Und diese Angst verhindert jeden Befreiungsversuch: Klaustrophobie als Normalzustand. Autor und Regisseur Klaus Sommerfeld gelingt es mit seinem Ensemble, dieser Enge und dem ins Ungewisse gerichtete Grauen eine entsprechende Form zu verleihen, die sehr schnell aufs Publikum übergreift. Das blinkende Fernsehmonstrum („Big Brother“ läßt grüßen) unterbricht die jeweils kurzen Sequenzen und läßt Fragen offen, die im Kopf zu unvorstellbaren Antworten mutieren. Die Musik von Becker/Hönerbach/Maar scheint aus einem lecken Wasserhahn zu tropfen und höhlt die sowieso schon angespannten Nerven weiter aus. Die Bühnenrequisiten sind vertraute Alltagsgegenstände, werden jedoch zum Teil zweckentfremdet und erhalten so einen skurrilen, fiktionalen Anstrich. Es ist kein High-Tech, der verschwenderisch eingesetzt wird und große Wirkung erzielt, das – verzerrte – Normale greift vorstellbarer als jeder Mammuteinsatz technischer Mittel.

Alles andere ist den Schauspielern überlassen, und die schlagen sich mit großer Spielfreude, um die jeweilige Rolle von der anderen abzuheben und so die gegenübergestellten Positionen zu verdeutlichen. Angelika Staudt und Hannes Jörg Hohgräve sind die beiden „Alten“ im ursprünglichen Quartett, ein wenig Elternersatz für Patty und Fuzzy, die das Leben noch von vorher kennen. Ein bißchen altbacken und verstaubt präsentieren sie sich den Jüngeren. Michael Maar als Fuzzy bekämpft verzweifelt-komisch alle Probleme durch Verdrängung und einem Gang zur Toilette, Frank Hönerbach als Hank 7 gibt sich cooler und erringt so bald Patties Herz. Sie ist das eigentliche Zentrum des Stücks: Die Figur ist am gebrochensten. Meret Becker spielt die Patty mal frech und ordinär, mal schmollend, unglücklich, sensibel. Dann wieder ist sie der Sonnenschein für alle. Der Sängerin Meret Becker, die in dieser Produktion ihr Sprechrollen-Debüt gibt, gelingt es immer wieder, die düstere Grundstimmung zu erhellen. Das Licht in der Finsternis, Ärgernis und Egoismus in einer Person – sie ist die unbestrittene Königin und Identifikationsfigur für die anwesenden Jugendlichen. Anja Poschen

Weitere Termine: Di.–Do. 10.30 und/oder 20 Uhr in der Ölberg- Kirche, Lausitzer Str. 28.

Vorbestellungen: 7074017

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