: „Das Match des Jahrzehnts“
Im Halbfinale um die ATP-Weltmeisterschaft trieben Boris Becker und Goran Ivanisevic die Zuschauer an den Rand der Hysterie ■ Aus Frankfurt Michaela Schießl
Ion Tiriac mit einem Tennisspiel zu begeistern, galt bis Samstag abend schlichtweg als unmöglich. Zu viele hat der Manager im Laufe seines Lebens schon gesehen, als daß ihn ein Match noch vom Stuhl reißen könnte. Zudem war er just zu diesem Zeitpunkt äußerst gereizt aufgrund der „Bild- Zeitungs“-Ente um Beckers angebliche Hochzeit. Nur mit Mühe konnten ihn die Veranstalter der ATP-Weltmeisterschaft in Frankfurt davon abhalten, den Schmierer eigenhändig aus dem Pressezentrum zu prügeln.
Den zweiten unerwarteten Gefühlsschub der Woche erlitt Tiriac beim Halbfinale. Das Drama, das Boris Becker und Goran Ivanisevic in der Festhalle inszenierten, ließ auch den abgebrühtesten Mann der Branche nicht unberührt. „Das war das Spiel des Jahrzehnts“, stieß Tiriac unter seinem graumelierten Bart hervor. Emotionsverschärfend kam hinzu, daß beide Akteure beim finsteren Rumänen unter Vertrag stehen.
Doch während Tiriac sich in seiner Loge die Hände rieb, plagten die beiden ganz andere Sorgen. „Oh Gott, hoffentlich ist es bald zu Ende“, dachte Boris Becker im Tiebreak des dritten und entscheidenden Satzes. Gerade hatte Goran Ivanisevic ausgeglichen, 6:6, alles wieder offen, der Nervenstreß ging weiter. An ein Break war nicht zu denken: „Gorans nächste Aufschläge hab ich nicht einmal gesehen. Er wahrscheinlich auch nicht“, klagte Becker.
„Goran, nicht so fest“, schrie einer aus dem Publikum. Doch der Kroate versteht eben kein deutsch: 23 Asse setzte er Becker insgesamt ins Nest. 9.000 Zuschauer japsten, tobten, schrien, immer hart an der Grenze zur Hysterie. 18.000 schweißnasse Hände schmierten über die Stoffbezüge der Frankfurter Festhallen-Sitze, ebenso viele Beinpaare trampelten stampedeartig auf dem Boden. Selbst die Vips verloren gänzlich die Contenance und krakehlten ungeniert: Booorriiss!!!
Belohnt wurden die Fans mit Tennis, wie es selten nur zu sehen ist: Zwei Spieler, die gleichermaßen gut aufschlagen wie returnieren, zwei, zu deren brillanter Technik sich das gesellt, was die Menschen begeistert: Spielwitz.
Und eine tüchtige Portion Hinterlist. Denn soviel kann man gar nicht schwitzen, wie Ivanisevic sich abtrocknet. Becker rennt aufs Klo, Goran schmeißt den Ball und fängt ihn wieder auf, Becker stretcht seine Beine, kommuniziert mit dem Publikum, Ivanisevic beschwert sich beim Schiedsrichter. Psycho auf dem Tennisplatz. Ziel der Faxen: Den Rhythmus des Gegners stören.
Selbst Becker war schwer beeindruckt ob der eigenen Performance: „Entweder er wird die Nummer eins oder ich. Ich glaube nicht, daß irgendeiner besser spielen kann als das, was wir heute gezeigt haben.“ Für Goran Ivanisevic war das kaum ein Trost: „Becker hatte einfach mehr Glück.“ Der Kroate hatte nach 6:4, 4:6 im Tiebreak des dritten Satzes bereits vier Matchbälle abgewehrt, als er einen Ball zum 7:8 ins Aus drosch. Matchball Nummer fünf, Service für den Deutschen. Er verwandelte ihn beckerartig: Eingesprungener Beckerhecht mit anschließendem Aufrappel-Volley. „Ich hatte mir beim Hecht auf die Stirn geschlagen, versuchte aber sofort, wieder aufzustehen und stolperte zum nächsten Ball. Irgendwie streckte ich mich nach dem Vorhandvolley, irgendwie brachte ich ihn ins Feld, und irgendwie war das Match vorbei.“ Irgendwie schafft es Becker eben immer, ein Match herumzureißen. „Man muß cool bleiben.“
Für Beckers Gegner eine fast unlösbare Aufgabe. Es ist zum verzweifeln, wie Becker von Spiel zu Spiel sicherer wird, wächst und wächst und sich früher oder später wie der Herr im Haus aufführt. Und das, wo er nur ein einziges, winziges Prozent besser war als Ivanisevic: 51 Prozent der Ballwechsel gewann Becker, 49 Ivanisevic. Der hatte zuvor versprochen, sich gegen den Deutschen „gewaltig aufzupumpen“. Er ist nicht der erste, dem Becker die Luft rausgelassen hat.
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