: Valium fürs Volk!
„Junge Choreographen“ plus Maurice Béjart in Stuttgart: Das Publikum schreit sich frei ■ Von Christian Gampert
Kaum ist der Generalintendant abgetreten, wird schon wieder herumgebrüllt in Stuttgart. Gönnenwein ist weg, die Ehrenloge leer, und nun artikuliert sich das Abonnentenvolk selber, weil es nämlich eine Inszenierung nicht versteht.
Schon im Opernfoyer ein vielstimmiges Hacken und Klacken aus diversen Lautsprechern, welches das Publikumsgeschnatter wohltuend übertönte. Wunderbar! Statt aber die Wirkung dieser musikalischen Labsal abzuwarten, ballerte man folgende fettgedruckte Warnung ins Programmheft: „Der Einlaß zum ersten Ballett ,Valium‘ wird exakt um 19.30Uhr stattfinden. Die ins Foyer übertragene Komposition ,Poème Symphonique‘ für 100 Metronome von Györgi Ligeti vor dem Einlaß ist bereits Bestandteil der Inszenierung.“
Na dann. In Stuttgart ist man halt etwas blöder als anderswo. Dachte die Balletdirektion und hatte so unrecht nicht, der weitere Verlauf des Abends sollte es zeigen. „Valium“: Der Choreograph Marco Santi hatte sein von der Pharma-Industrie gesponsertes Reich des Schlafes, dem Totenreich ja nicht unähnlich, unten im Orchestergraben angesiedelt. Dort, wo sonst der Orchesterbeamte seinem Einsatz entgegenschnarcht, bewegten sich geheimnisvolle Figuren vor milchigen Scheinwerfern und warfen so ihr Abbild in den großen Bühnenraum. Shadows on the Wall, ein Kommen und Verschwinden, ein seltsam lauschiges Schattenreich, in dem man torero-artig Tücher schwenkte und Wolldecken zum Picknick bereitlegte.
Als Ligetis Klackophonie verklang (und die ersten Buhs erntete), fuhr die versenkbare Vorbühne hoch und gab den Blick frei auf eine Art militärisches Winterlager; dumpfes Maschinengedröhn, repetierte Kampfbewegungen, sich im Winde windende wurmartige Gestalten. Ein Monitor gab die verbleibende Spielzeit bekannt (die Premierengäste zählten höhnisch mit), die Protagonistin stöckelte auf einem roten Klebeband, welches später zur Nabelschnur und Nachgeburt wurde, durch die leere Welt, ein irrer König/Pope/Hofnarr und eine eiserne Lady auf hügelgroßer Krinoline führten Selbstgespräche.
Dreisprachig sinnierten sie über „Valium“, „the night of sin“, die „détente musculaire“ und die „insuffisance respiratoire“, als geklonte glatzköpfige Monsterwesen mit verwachsenen Greifwerkzeugen sich über arme Menschlein beugten, die Rockgruppe „Lustmord“ grummelte vom Tape – insgesamt das alte Spiel: Choreograph zitiert wild drauflos, egal ob es Shakespeare, Lewis Carrol oder die Frankenstein-Factory ist, man nennt das postmoderne Verwirrung, und dabei entstehen bisweilen wunderschöne Bilder eines surrealen, leeren Kosmos, als hätten Salvador Dali oder Magritte beim Inszenieren mitgeholfen.
Das Problem ist nur, daß ein Hoppe-Hoppe-Schwanensee-gewöhntes Publikum mit dieser Art Ich-Losigkeit nichts anfangen kann. Das von Marco Santi und seinem Lichtregisseur Roland Gassmann überlebensgroß herauspräparierte Gliederzittern im leeren Raum ist auch tänzerisch eher ein nihilistischer Abgesang als das im Parkett gewünschte Konfekt. Auf der Bühne kriechen Käfer und Krebse, stechen Samurai-hafte Rednecks, schlurfen koloßartige Yetis und Mutanten, die böse Stiefmutter wetzt ihre scherenartigen Arme – ein Alptraum, auch mit dem Beruhigungsmittel Valium nicht zu stoppen.
Zugegeben, wer weder Franz Kafka noch die monströse „Munster“-Family kennt, wer selber keine Halluzinationen hat, der fängt damit nichts an. Und zugegeben sei auch, daß dem Choreographen Marco Santi nach zwanzig Minuten die Luft ausgeht und die Struktur verwässert, daß es lang und beliebig wurde. Erstaunlich ist aber die schwäbische Aggressivität, mit der durchs mittelständische Weltbild wirbelnde Salti schlagende Luftmenschen verhöhnt werden („Bravo!“) oder mit der man eine imaginierte Vergewaltigung nebst Kotzanfall („Valium – Nebenwirkungen während der Schwangerschaft“) durch anhaltende Unruhe vernichtet. So sind sie halt, die Abonnenten. Die Welt ein Straflager? Wollen wir nicht sehen. Und so fand die wirkliche Inszenierung dieses Abends gar nicht auf der Bühne statt, sondern im Parkett: Ehrwürdige Muttis und brave Unternehmer schrien und buhten bis zur Heiserkeit. Nun gut, sie hatten ja bezahlt.
Nach der Pause bekamen sie dann, was sie wollten: Hervé Palito hatte die „Sonata à Trois“ (nach Sartres „Geschlossene Türen“) von Maurice Béjart aus dem Jahre 1957 neu einstudiert, eine kalte Seelenpantomime, die von den virtuosen Annie Mayet, Cathérine Datcheller und Jean-Christophe Blavier getanzt wurde, als hätten sie molekulare An- und Abstoßungsprozesse vorzuführen. Und hier waren sie wieder, die vertrauten Sprünge, nicht viel denken, nur genießen, Sartre, Existenz, Tragik. Maurice Béjart, im schwarzen Rollkragenpullover, nahm den Applaus persönlich entgegen.
Zum versöhnlichen Ende ging's in die Wüste: „Empty Space“ von Renato Zanella erzählt – vor einem Prospekt wechselnder, farbverfremdeter Lichtbilder – von trägen Schlangenkörpern und seltsamen Rüsseltieren, mehr aber noch von der Befindlichkeit desjenigen, der allein im weißen Nirvana vor sich hinvegetiert. In der Wüste wird nämlich auch der Mensch animalisch, seine geistige Geschmeidigkeit verändert sich in scharfkantige Aggression, er sieht sich windende, weiße Feen auf fernen Wassertümpeln, die gleich wieder verschwinden, er erlebt das Gehen als Vorwärtsfallen und wird, schon ausgedörrt, von einem seltsamen Begehren erfaßt, das irgendwie vom Sexualtrieb herrühren muß.
Enttäuschend nur die Musik von Jon Hassel und dem früheren David-Bowie-Gefährten Brian Eno: Nach einem konventionell- arabischen Flötengesirr am Anfang, wurde die geistige Austrocknung in der Wüste von Eno in ein nervendes Staubsaugergedröhn umgesetzt, ein schwummriger Dauerton, als hätte man bei Daimler-Benz die Absauganlage von Halle3 angeschaltet.
Trotzdem begegneten sich Liebende auf gleißenden Lichtstraßen, verkeilten sich zu einem kurzen Pas de deux und rollten, als der Wachtraum zu Ende war, wieder in die Hinterbühne. Tanzen und sich trennen, das ist es. Arbeiten, weitermachen. Und nicht auf die Schreihälse im Publikum hören.
„Valium“ von Marco Santi (Uraufführung), „Sonate à Trois“ von Maurice Béjart, „Empty Space“ von Renato Zanella (Uraufführung), Staatstheater Stuttgart, weitere Vorstellungen: 25.November und 14.Dezember.
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