: Die Lust am Hackenschubser
„Gib mich die Kirsche, Deutschland!“ – Ein buntes Buch über die erste Dekade des bunten Fußballs von „Roter Hammer“ bis „Hinter Mailand“ ■ Von Ulf Biber
Berlin (taz) – „Ich habe nie eine Chance überhastet vergeben, lieber habe ich sie vertändelt.“ Einen solchen Satz muß man schon erst mal locker und beidfüßig in der Luft halten, ihn dann – im Idealfall – über den Kopf heben und mit dem Hinterteil stoppen (wie nur er es konnte), bevor er, mit der Hacke wieder nach vorne befördert, seine wahre philosophische Tiefe entfaltet hat.
Ja ja, will es einem dann entfahren, die guten alten Zeiten, wo es noch solche Kerle wie Willi „Ente“ Lippens gab. Am Sechzehner Torwart austricksen, bis auf die Torlinie gehen, Ball stoppen, hinknien, Ball mit dem Kopf über die Linie schubsen, grinsen. Statt Kuntz- Säge auch im Triumph noch Schalk im Nacken. Vorbei. Fast schon vergessen. Oder doch nicht?
„Ente“ selbst hat Trost parat: „In so bunte Ligen, da gibt es heute noch diese Urtypen, die dat ganze Dingen auflockern. Wenn solche Leute auch die Möglichkeit hätten, weiter oben zu spielen. Das wär's doch.“ Mit stolzgeschwellter Brust werden diese Botschaft Kicker und Kickerinnen vernehmen, die landauf, landab in Mannschaften dem Ball hinterherhecheln, welche „Prinzip Hoffnung“ heißen oder „Roter Hammer“ oder „Hinter Mailand“. Hier hat schließlich nicht irgendwer gesprochen, sondern eine der letzten Legenden eines Fußballs, bei dem noch mehr zählte als das reine Ergebnis. Und „Ente“ Lippens' Bekenntnis ist bei weitem nicht das einzige Schmankerl, das „Gib mich die Kirsche, Deutschland!“, ein Buch über „Bunte Ligen und Alternativfußball“, bereithält.
Die Herausgeber Bernd Müllender und Jürgen Nendza haben eine Vielzahl von Beiträgen über diese – wie es im Vorwort heißt – „spielwitzige Verquickung von Fußballsport und politischer Denkungsart“ zusammengetragen, die in ihrer Gesamtheit einen tiefen Einblick in die mentale Verfassung derer geben, die mit ihrer Jagd nach dem Leder (nicht nur) den herrschenden Kickverhältnissen eine Absage erteilen wollen. Interviews mit prominenten Alternativkickern wie Joschka Fischer – „Ich bekomme gewiß keine Magengeschwüre, das arbeite ich alles beim Fußball ab“ – oder Herbert Grönemeyer gehören ebenso dazu wie eine sozialwissenschaftliche Annäherung an das Phänomen Alternativfußball oder die detaillierte und endgültige Geschichte, wie der Papst Ehrenmitglied der Bunten Liga Aachen wurde.
Daß die Herausgeber, die auch bei Juventus Senile Aachen ein Gespann bilden, den mal mehr, mal weniger gelungenen Selbstdarstellungen von fast 40 Buntligisten viel Platz einräumen, hat wohl auch – wo alternativ gekickt wird, ansonsten ein Tabu – kommerzielle Hintergründe. Steht doch zu vermuten, daß unzählige aus dem bunten Haufen die Gelegenheit nutzen werden, Freunden, Freundinnen und Vätern schwarz auf weiß den Beleg unter den Weihnachtsbaum zu legen, daß und wie sie dem aus (fußball)politischen Gründen versperrten Weg nach oben mit nicht erlahmender menottiesker Lust an Hackenschubser, Croissant-Flanken und Seitfallziehern entsagen.
Aber auch wer in den Selbstdarstellungs-Passagen des hübsch aufgemachten Bändchens Konditionsmängel aufweisen sollte, kann guten Mutes sein. Beiträge wie die wunderbare Selbstanalyse des Alternativ-Kicker-Seelenlebens, vorgenommen von einem „kleinen blonden Straßenfußballer (lat. parvulus harpasti lusor flavus)“, der es immerhin zum Libero mit „phänomenalem Rundblick wie dem eines kalifornischen Ochsenfrosches: 345 Grad“ gebracht hat, bieten reichlich Entschädigung. Wohl niemand vorher wußte trefflicher das hamstergleiche „Auf-der-Stelle-Rödeln“ des gemeinen alternativen Kickers in Worte zu fassen; und auch niemand liebevoller die Orte des bunten Treibens als „Horte andauernden Selbstbetrugs“ zu entlarven, die ein „weites Feld für Therapeuten“ böten, „wäre nicht, jawohl, echt wahr, wäre nicht das Rödeln und Selbstbetrügen die Therapie selbst“.
Darüber hinaus beseitigt „Gib mich die Kirsche, Deutschland!“ die letzten Zweifel, daß der Zusammenhang von Fußball und Politik nicht nur für den offiziellen DFB-Fußball (vgl.: Norbert Seitz, „Bananenrepublik und Gurkentruppe“) Gültigkeit besitzt. Auch ein Hauch von Wehmut nämlich durchzieht das Buch. Kaum ein Bunte-Liga-Porträt, in dem nicht (am Rande) Klage geführt wird über neuerdings sichtbar werdende Tendenzen von übermäßigem Ehrgeiz und Leistungsdenken. Keine Frage: ohne daß das explizit thematisiert wird, hat der Niedergang der sozialen Bewegungen auch im Selbstverständnis der Bunten Ligen, die sich Anfang der Achtziger im historischen Umfeld von Grünen-Gründung, Hausbesetzer- und Friedensbewegung etablierten, Risse hinterlassen. Und ein Blick auf das Autorinnen- und Autorenregister macht deutlich, warum das gleich als doppelter Schmerz in die Texte einfließt. Fast alle sind sie nämlich 35 und 40 Jahre alt, in einer Lebensphase also, wo auch der Buntligakicker weiß, daß die Hoffnungen auf einen eigenen fußballerischen Höhenflug immer unentrinnbarer unter die Zeichen der Vergeblichkeit geraten.
Wer wollte da noch die aufkommenden Sentimentalitäten verdenken, wenn jugendliche Yuppie- Teams nicht nur diese individuellen Hoffnungen, sondern auch die kollektiven Ideale mit Füßen treten. In diesem Sinne ist „Gib mich die Kirsche, Deutschland!“ auch eine Art Resümee der Gründerväter nach der ersten Dekade Bunte Liga.
Bernd Müllender/Jürgen Nendza (Hg.): „Gib mich die Kirsche, Deutschland!“ Klartext-Verlag, 1992; DM 34,80; ISBN 3-88474-019-9.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen