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Singende Glückskeks

■ Lüge: Joscha kam gar nicht aus dem Morgenland!

Wie anfällig für Veränderung selbst die ältesten Bräuche sind, zeigt sich in Bremen immer dann, wenn der 6. Dezember auf einen Sonntag fällt: „Nikolauslaufen am Montag“ hatte mancher Einzelhändler schon letzte Woche ins Fenster geschrieben, um übereifrigen Kindern zu entgehen, die am liebsten schon den ganzen Samstag Liedchen und Gedichte gegen Süßes eingetauscht hätten.

Die Kinder nehmen's aber nicht krumm: „Die Geschäfte müssen eben offen sein“, erkennt Tim nüchtern die Realitäten. Allerdings, allzu viel Zeit haben er und Jannis nicht. Sie sagen in aller Eile die Geschichte vom kleinen König auf, der zu wenig hat und nicht lange steh'n, sondern weitergeh'n will, und schwirren mit einem schelmischen Lächeln und jeder Menge Bonbons in den nächsten Laden.

Das kleine Grüppchen Mädchen, das gerade aus dem türkischen Lebensmittelladen kommt, läßt sich Zeit: Andrea aus Portugal intoniert gefühlvoll die Strophe eines portugiesischen Weihnachtsliedes und drückt damit in Kurzfassung ihre Freude über die Geburt des Mariensohns aus. Ihre Freundinnen kommen aus dem Iran und laufen dieses Jahr zum ersten Mal Nikolaus — großzügig singt Andrea für alle, und ihre Freundinnen stören sich nicht daran, daß sie nichts verstehen und ihnen das Jesukind ziemlich egal ist.

Großzügig sollten am Nikolaus-Tag alle sein — und sie sind's. Selbstgedichtetes oder Ungereimtes, Kinder und Erwachsene haben ihren Spaß. Das war anscheinend nicht immer so: im 18. Jahrhundert sollte das Nikolauslaufen verboten werden. Glücklicherweise hat's nicht geklappt. Seit wann in Bremen Niklaus gelaufen wird, ist unter Geschichtsbewanderten umstritten. Auch, ob der Brauch auf Sankt Martin zurückfällt, der in einem ärmlichen russischen Dorf der Bevölkerung zum Wohle seinen Reichtum teilte, weiß kaum jemand. Die Kids betrachten die Ereignisse aus der individuellen Perspektive: Joscha, der zwar behauptet aus dem Morgenland zu kommen, kommt in Wirklichkeit aus Bremen. Und seit er laufen kann, läuft er Nikolaus, egal was dahinter steckt.

Die Geschäfte halten Obuli bereit: von der Seife über den Plastikanhänger bis zum Glückskeks mit Horoskop aus dem japanischen Spezialitätenladen. Beim Türken, der Kinderherzen an gewöhnlichen Tagen mit gefüllten Keksen beglückt, hat man aus aktuellem Anlaß die Ration verdoppelt. Dort kennt man eine verwandte Festivität: „Kendil“. In der Türkei erwartet die Kinder auch ohne Aufsage-Fleiß ein kleiner „Preis“. ede

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