: Harmonie statt Gerechtigkeit
Michael Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“ relativiert den Gerechtigkeitsbegriff und unterminiert damit den liberalen und sozialen Rechtsstaatsgedanken ■ Von Beate Rössler
Was soziale Gerechtigkeit ist, welche Güter wie und an wen verteilt werden sollen, diese Frage ist nicht nur in der gesellschaftlichen Praxis umstritten, sondern auch in der philosophischen Theorie. Insbesondere John Rawls' „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (1972) hat wie kein anderes Werk die Diskussion in der politischen Philosophie um die Frage nach einer gerechten Gesellschaft geprägt.
Rawls' liberale Theorie will einen zugleich sozialen und liberalen Rechtsstaat begründen, in dem individuelle Rechte und Freiheiten mit einem größtmöglichen Maß an sozialer Gerechtigkeit verbunden sind. Dabei sucht Rawls dem „Faktum des Pluralismus“ moderner Gesellschaften dadurch Rechnung zu tragen, daß der fiktive „Gesellschaftsvertrag“, den ihre Mitglieder abschließen, so substantiell und zugleich auf die Fairness politischer Verfahren abgestellt ist, daß ihm alle Personen zustimmen und sich so auf Prinzipien der Gerechtigkeit einigen können.
In die vielstimmige Kritik an Rawls' Theorie läßt sich auch Michael Walzers 1983 und jetzt auf deutsch erschienenes Buch „Sphären der Gerechtigkeit“ einreihen. Walzers Entwurf behauptet gegen die liberale Theorie ein Doppeltes: Gegen die abstrakt-universalistische Festsetzung liberaler Rechte und Freiheiten und gegen deren Konzeption distributiver Gerechtigkeit wendet er zum einen ein, daß eine Theorie der Gerechtigkeit sich nur auf konkrete politische Gemeinschaften beziehen könne. „Gemeinschaft“ ist damit der Grundbegriff seiner Konzeption: sie ist kommunitaristisch, da sich Prinzipien der Gerechtigkeit gerade nicht transkulturell oder transhistorisch bestimmen lassen. Gemeinschaften in Walzers Sinn sind konstituiert durch eine gemeinsame „Sprache, Geschichte und Kultur“, die ein „kollektives Bewußtsein erzeugen“ und deren Mitglieder „gemeinsame Sensibilitäten und Intuitionen“ haben. Gemeinschaftliche Traditionen bestimmen, welche Güter je für wichtig und welche Verteilungskriterien je für angemessen gehalten werden. Auf diese Weise wird der Begriff der Gerechtigkeit von Grund auf relativistisch.
Gegen die Idee, daß mit Hilfe eines Prinzips gerechte Verteilungen gesichert werden können, behauptet Walzer zum zweiten, daß die Verteilung unterschiedlicher sozialer Güter nicht nur abhängig sei von der je unterschiedlichen Bewertung dieser Güter in der jeweiligen Gemeinschaft, sondern vor allem, daß diese Verteilung für jedes Gut gesondert vorgehen müsse: Die Güter bilden „Sphären“, innerhalb derer sie distribuiert werden und die je für sich autonom beurteilt werden müssen. Bei Walzer herrscht Gerechtigkeit in einer Gemeinschaft folglich dann, wenn die Verteilung der Güter nach ihrer „sozialen Bedeutung“ in der „Pluralität der Sphären“ gesichert ist: wenn also beispielsweise das Gesundheitssystem nach Kriterien der Bedürftigkeit organisiert ist, Ämter nach Qualifikation und Leistung verteilt werden. Auf diese Weise entsteht das, was Walzer „komplexe Gleichheit“ der Mitglieder einer Gemeinschaft nennt. Nicht alle haben gleich viel in allen Sphären, aber diese Ungleichheiten akzeptieren sie und heißen sie gut deshalb, weil die Autonomie der Sphären sicherstellt, daß etwa Erfolg in der Sphäre des Marktes – sprich Reichtum – nicht auf andere Sphären – also etwa politische Ämter, Ausbildung der Kinder oder gesundheitliche Versorgung – übergreifen kann.
Doch Walzers These scheitert: zuerst an einem kuriosen Widerspruch, in den er sich dort verstrickt, wo sein kommunitaristischer Ansatz mit dem Prinzip der Sphärentrennung konfligiert. Zwar hat dieses Prinzip ein hohes kritisches Potential. Es verschafft ihm die Möglichkeit, etwa gegen die Käuflichkeit politischer Ämter zu argumentieren und die „Dominanz“ eines Gutes – des Geldes – in verschiedenen Sphären, wie sie für kapitalistische Gesellschaften typisch ist, anzuklagen. Doch dieses kritische Potential kann Walzer in keiner Weise einlösen. Denn will er – als Kommunitarist – die Bewertung der sozialen Güter und ihre internen Verteilungskriterien gerade von den jeweiligen sozialen Praktiken ablesen und so eine externe Kritik an den Wertsetzungen und Praktiken einer Gemeinschaft von vornherein vermeiden, so kann er nicht – als Kritiker – gegebene soziale Praktiken der Sphärenvermischung verurteilen mit dem Verweis auf eine den Gütern nicht angemessene Praxis der Verteilung. Der kritische Impetus mißrät zur bloßen Geste, wenn die Traditionen und Praktiken einer Gemeinschaft als sakrosankt begriffen werden.
Dieser Verzicht auf die Möglichkeit einer gemeinschaftliches Einverständnis übersteigenden Kritik hat noch fatalere Folgen: Die Beschreibung anderer, fremder sozialer Praktiken verkommt zur Anekdote, wenn vor dem kommunitaristischen Blick alles in gleicher Weise „gerecht“ und so nicht mehr sichtbar wird, mit welchen Gründen Praktiken ungleicher Verteilung kritisiert werden können. Walzers Insistieren auf einem relativen Begriff von Gerechtigkeit wird zynisch spätestens dort, wo etwa das indische Kastensystem als ebenso „gerecht“ bezeichnet werden kann wie westliche Demokratien. Besonders schwer wiegt jedoch das Versagen von Walzers Theorie hinsichtlich ihrer Anwendung auf moderne Gesellschaften. Schon sein Grundbegriff der politischen Gemeinschaft ist ein Phantom: Harmonische Gemeinschaften in seinem Sinn existieren bekanntlich zumindest in modernen Gesellschaften nicht mehr. In diesen Kontexten konstituieren sich geschlossene Gemeinschaften gerade nicht durch harmonisches Einverständnis ihrer Mitglieder, sondern durch den repressiven Ausschluß all derer, die das jeweils erwünschte Einverständnis nicht teilen wollen. Moderne, plural verfaßte Gesellschaften sind gekennzeichnet durch Uneinigkeit : Hier gibt es üblicherweise gerade kein „kollektives Bewußtsein“ und „gemeinsame Sensibilitäten“ mehr, ebensowenig eine „gemeinsame Kultur“ im strengen Sinne. Uneinigkeit herrscht dabei nicht nur im Blick auf die Bedeutung sozialer Güter und deren gerechter Verteilung. Uneinigkeit herrscht auch darüber, wer eigentlich in die gerechte Verteilung mit eingeschlossen werden soll; und sie herrscht dort, wo es um die individuellen Konzeptionen dessen geht, was je für ein gelungenes Leben gehalten wird. Auf die Frage, wie angesichts dieser Uneinigkeiten gerechtes gesellschaftliches Zusammenleben möglich sein soll, kann Walzers kommunitaristisches Modell gerade keine Antwort geben.
Auch seine kritische Idee der Sphärentrennung entpuppt sich als theoretischer Fehlschlag: denn zum einen kann es aus Gründen sozialer Gerechtigkeit notwendig sein, Sphären gerade nicht zu trennen – so, wenn staatliche Eingriffe in die Sphäre des Marktes aus Gründen der Arbeitsplatzsicherung notwendig werden. Oder dann, wenn in der Sphäre der Ämter aus Gründen sozialer Gleichheit mit Frauenquoten gegen das Prinzip der Verteilung nach Leistung verstoßen werden muß. Walzers Idee der gleichsam prästabilisierten Sphärentrennung und -harmonie ist eine Schimäre: ist es doch gerade Charakteristikum moderner Gesellschaften, daß ihre Ausdifferenzierung in verschiedene Sphären ständig neu verhandelt wird. Walzer hingegen handelt pikanterweise „die Frauenfrage“ im Kapitel des sozialen Guts „Verwandtschaft und Liebe“ ab. Doch wie diese Sphäre des Privaten gegen andere – etwa der öffentlichen Kindererziehung – abzugrenzen ist, darüber herrscht doch Streit, der auf der Konkurrenz von Wertsetzungen beruht.
Die Stärke des liberalen Ansatzes liegt nun eben darin, daß er um diese Formen der Uneinigkeit und des Streits weiß. Daher beharrt er auf gleichen Rechten und Freiheiten und auf der Fairness von Verfahren, denen alle gemeinsam zustimmen können, auch wenn sie sich in ihren Lebensplänen und Wertsetzungen unterscheiden. Dies scheint, zumal in Krisenzeiten, nicht viel zu sein: gerade deshalb haben Kritiker des Liberalismus Konjunktur. Sie kommen offenbar dem Bedürfnis entgegen, den Problemen moderner, ausdifferenzierter und individualisierter Gesellschaften mit der Rückkehr zu einem starken Gemeinschaftsbegriff zu begegnen. Aber wenn man Rechte und Freiheiten ernst nimmt, dann lassen sich die Probleme des Liberalismus nur im Liberalismus selbst bewältigen und nicht im vermeintlich neuen Rückgang auf eine alte, vorliberale Idee von Gemeinschaft, die Harmonie nur mehr vortäuschen kann.
Michael Walzer: „Die Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit“. Aus dem Englischen von H. Herkommer. Campus, Frankfurt/M. 1992, 478 Seiten, 98 DM
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