Ein politischer Neuanfang nach japanischer Art

■ Eine fast komplette Kabinettsumbildung in Tokio soll die Skandale vergessen machen/ Doch eine Erneuerung innerhalb der Regierungspartei ist nicht in Sicht

Tokio (taz) —Japan hat, könnte man meinen, seit gestern eine neue Regierung. Sämtliche Kabinettsposten — bis auf Premier-, Außen- und Landwirtschaftsminister — wurden am Freitag neu besetzt. Wann hat es das in Europa schon gegeben, daß der Regierungschef an einem Tag nahezu alle seine Minister austauscht?

In Tokio ist das freilich nichts Ungewöhnliches. Tatsächlich bieten die fast alljährlichen Regierungsumbildungen für die seit 37 Jahren regierende Liberal-Demokratische-Partei (LDP) die beste Gelegenheit, mit frischen Gesichtern politische Erneuerungsfähigkeit zu suggerieren. So wollte Premier Kiichi Miyazawa gestern das Zeichen für einen neuen Aufbruch setzen: mit einer Frau als Erziehungsministerin und einem LDP-Querdenker als für die Skandalaufklärungen zuständigen Justizminister.

Kein Aspekt der jüngsten Skandalgeschichten — es ging um Zusammenarbeit von LDP-Politikern mit Japans Yakuza-Mafia — ist bisher vollständig aufgeklärt. Gerade deshalb stellt die Ernennung des liberalen Masaharu Gotoda zum Justizminister einen Hoffnungsschimmer für die künftigen Ermittlungen dar. Läßt er den Staatsanwälten freie Hand bei ihren Nachforschungen, könnten nach Presseberichten mindestens 60 LDP-Abgeordnete auffliegen, die angeblich illegale Gelder der Mafia erhalten haben.

Wahrscheinlich aber geschieht das Gegenteil: Denn nach bewährter Taktik soll die Regierungsumbildung die verdächtigen Figuren aus dem Rampenlicht rücken. Fragt sich, ob sich die Öffentlichkeit auch diesmal damit zufrieden geben wird.

Pessimisten meinen: ja. Wahlen seien nicht in Sicht, und das Medieninteresse werde zwangsläufig verebben. Optimisten halten dagegen, daß einer breiten Öffentlichkeit in Japan erstmals klar geworden sei, wo der Kern politischer Korruption liege. Schließlich wäre es bei den Skandalen nicht um Regierungsmitglieder, sondern um die Drahtzieher hinter den Kulissen gegangen, namentlich Takeshita und Kanemaru. Man hätte den Teufel also zumindest an den Haaren erwischt.

Seit fast zwei Jahrzehnten hielt die parteiinterne Gruppierung unter Takeshita und Kanemaru und deren Vorgänger Kakuei Tanaka die wichtigsten Kabinettsposten besetzt. Erst die Skandale in diesem Jahr spalteten die Gruppierung, womit sie auch die Vormacht in der LDP verlor. Das zeigte sich am Freitag, als nur noch ein Mitglied der „Takeshita-Fraktion“ einen Ministerposten erhielt.

Doch die Machtablösung innerhalb der LDP führt nicht zwangsläufig zu einer neuen politischen Kursbestimmung, zu groß sind die Meinungsverschiedenheiten in der Partei. Diese treten vor allem dann besonders stark hervor, wenn von der Abschaffung der Fraktionen innerhalb der LDP die Rede ist. Seit ihrer Geburt 1955 ist sie eine Hydra mit vielen Köpfen: jeder Kopf eine Fraktion, in der alle auf ihren Fraktionsführer schauen, aber niemand auf den offiziellen Parteichef hört. Georg Blume