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: Die Einladung steht

■ "Blaubeerwald", Sonntag, 20 Uhr, MDR 3

„Blaubeerwald“, Sonntag,

20 Uhr, MDR3

„Man hat nie das Gefühl, nicht eingeladen zu sein“, sagt Gerd Conradt zu seiner Tante. Wir sitzen in ihrer Küche, und während die Tante die Lasagne in den Ofen schiebt, erzählt sie uns, warum. Der aus solcherlei Szenen collagierte Film ist der seit langem gelungenste Versuch, darzustellen, wie intakte, jahrzehntelang erprobte soziale und urbane Strukturen im Zug der „Wende“ unauffällig vom Tisch gefegt werden.

Aus mitgeschnittenen Gesprächen mit seinen Verwandten hat Conradt zusammen mit Kameramann und Koregisseur Hans Rombach ein filmisches Mosaik aus einfachen Alltagsbeobachtungen und Rollenspielen erstellt. Die Intimität seiner Bilder erreicht er nicht nur durch seine sympathische Art, zuzuhören und die Leute behutsam spielerisch zum Sprechen zu bringen. Es ist auch das verwendete Medium Video, das einen anderen Umgang mit dem Material ermöglicht, als denjenigen, den wir aus 08/15-Dokumentationen gewöhnt sind. Rasch geschnittene Bildcollagen, durch Musik stimmungsvoll angereichert, fügen sich in den Rahmen des Films ebenso ein wie der Blaubeeren essende Zauberer, den wir eher aus Kinderfilmen kennen.

Diesen märchenhaft-verklärten Rahmen legt Conradt wie eine schützende Hand über intime Bilder einer thüringischen Kleinstadt: „Sie müssen den grünen Zettel in den Umschlag tun“, sagt die Wahlhelferin im Wahllokal zu einem, der zum erstenmal wählt. Das Zentrum des Films bilden jedoch nicht derartige Schnappschüsse, sondern die eindrucksvollen Gespräche. Das wird streckenweise sehr privat: „Hast du deinen Ehering wiedergefunden?“ „Nein, den hat die Kuh gefressen.“ Nie entsteht der Eindruck, daß die Menschen vor der Kamera nur zum Reden gebracht wurden, um das darzustellen, was der Filmemacher im Kopf hat.

Der Film bleibt eine Suche. Es ist die nicht einfach zu beschreibende Kunst Conradts, die Würde dieser von der Währungsunion überrollten Menschen dort aufzuspüren, wo man sie nicht vermutet: beim Kneten von Klößen, beim Sammeln von Altglas, bei der Beschreibung von Senfkraut und beim Ausklappen eines Notenständers. „Blaubeerwald“ ist eine eindrucksvolle Mischung aus Familienportrait, Naturfilm und Zeitdokument nach der Wende. Gerade weil uns nichts mit großspurigen Worten erklärt wird, hat man hinterher den Eindruck, sehr genau zu wissen, wie dieses langsam zugrundegehende Soziotop funktioniert, warum man hier nie das Gefühl hat, nicht eingeladen zu sein. Manfred Riepe