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„Das große Kotzen“

■ Betr.: Das Erweckungserleb nis, taz vom 22.12.92

Ich habe keine Kerze angezündet, auch keine Wunderkerze, auch kein batteriebetriebenes Licht, auch keine Fackel und auch damals keine Kerze für unsere Brüder und Schwestern ins Fenster gestellt, wie Herr Reuter es wollte. Ich hatte/habe genug von den erhabenen feierlichen Gefühlen, und wenn Herr Wontorra, damals Sportredakteur bei Radio Bremen, bei einem Sportsieg der Deutschen sagt, daß das ein innerer Reichsparteitag für ihn ist, so muß vielen Menschen meiner Generation das große Kotzen kommen und auch dann, wenn so ein liebes Muttchen meiner Generation (1923 — sicherlich eine alte Kameradin) sagt, während sie ihr Kerzlein hält, daß sie noch nie auf einer Demonstration war (um Gottes Willen glauben Sie doch so was nicht!) aber heute, ja heute müßte sie dabei sein, und sie hat es nicht bereut, und es sei erhebend — dann kommen mir die Tränen vor so viel Verfassungslosigkeit.

Ich weiß heute noch, wie erhebend der Anblick war, als dem „Führer“ ein Fackelzug bereitet wurde (auch aus Freude, weil er nun endlich die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen hatte).

Die ganze Lichtersymbolik war verbunden mit der „reinigenden Kraft des Feuers“ - auch der Verbrennungsöfen — vergeßt das nie! Nie wieder möchte ich solche erhebenden Gefühle haben. So erhebend wie damals, als mein Verstand in Gläubigkeit ersoffen wurde — und ich ihn ersaufen ließ. Und jetzt? Während alle so stolz auf die geläuterte deutsche Seele sind und alle Kirchenglocken läuten, zur selben Zeit fordert Herr Seiters an der Oderneißelinie den Einsatz der Bundeswehr, auch der vielleicht schon entlassenen Soldaten, frei und willig, besonders willig, um dort eine Mauer zu errichten, nicht aus Steinen, sondern aus Stahlhelmen. Die Helme braucht man nicht einmal blau anzumalen. Um Freiwillige braucht sich Herr Seiters keine Sorgen machen. Versoffene deutsche Recken gibt es genug, und außerdem gibt man der deutschen, randalierenden, arbeitslosen Jugend wieder eine Perspektive.

Sie alle da oben, glauben Sie ja nicht, daß sie in der Gnade der späten Geburt stehen. Ernestine Zielke

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