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„Es gibt eine schweigende Mehrheit von Demokraten“

Ein Interview mit Hans Magnus Enzensberger  ■ Von Anne Huffschmid

Hans Magnus Enzensberger, von den einen als zynischer Ex-Linker verschrien und von anderen ob seiner intellektuellen Beweglichkeit gerühmt, ist in Mittelamerika eher unbekannt. Er hat in diesem Herbst Mexiko besucht – im Geleit von Richard von Weizsäcker und auf Einladung seines Literatenfreundes Octavio Paz.

taz: Auch in Mexiko geht zur Zeit die häßliche Fratze eines neuen rassistischen Deutschlands durch die Medien. In Ihrem Essay „Die große Wanderung“ vertreten Sie die These, daß der Rassismus nichts spezifisch Deutsches, sondern sozusagen eine „anthropologische Konstante“ der Menschheitsgeschichte sei. Wie erklären Sie dann aber seine besonders gewalttätige und mörderische Variante in Deutschland?

Hans Magnus Enzensberger: Es gibt tatsächlich einen Anteil, der universell ist. Das heißt, jede Gesellschaft, die plötzlich konfrontiert wird mit einer Masseneinwanderung in dieser Größenordnung, wird in jedem Fall Konflikte bekommen. Bei der Austragung dieser Konflikte spielen die historischen Bedingungen eine Rolle. Es hat in Deutschland nach dem Krieg eine Schönwetterdemokratie gegeben, eine reiche Demokratie, die Glück und Erfolg hatte. Jetzt sieht sich die deutsche Gesellschaft zum ersten Mal mit zwei Herausforderungen großen Stils konfrontiert: zum einen die Bewältigung der deutschen Einheit und zum anderen die Masseneinwanderung. In beiden Fällen hat die politische Klasse mit Lügen reagiert, mit Selbsttäuschung und mit Ausweichmanövern. Sie hat sich schuldig gemacht. Die westdeutsche Bevölkerung hat im Lauf von fünfzehn Jahren eine ziemlich große Einwanderung auch von kulturell fremden Völkern absorbiert. Die Türken sind jahrelang ausgebeutet, schlecht behandelt, aber gesellschaftlich akzeptiert worden. Sie hatten einen Platz in der Gemeinschaft gefunden, waren auf dem Arbeitsmarkt sogar erwünscht. Das ist jetzt ganz anders: Die Leute finden keine Arbeit, und die Gesellschaft weiß nicht, wohin mit ihnen. Und in solchen zugespitzten Fällen kommen dann die Rückfälle. Wenn die Gesellschaft neurotisch wird, fällt sie auf alte Muster zurück, und man entdeckt, daß es die ganze Zeit über eine schweigende Minderheit gegeben hat – ich glaube, es ist eine Minderheit –, die sich mit der Demokratie immer noch nicht ganz identifiziert hat.

Also doch ein spezifisch deutsches Phänomen?

Sicherlich, in zweierlei Hinsicht: einerseits die Erscheinungsform, also das Hantieren mit nazistischen Symbolen, und zweitens eine gewisse Brutalität, die ja auch spezifisch ist. Es gibt rassistische Ausschreitungen in Ländern wie Italien, Frankreich etc., aber die Dimension wie in Deutschland haben sie bisher nicht angenommen. Und ich glaube, dabei spielt auch eine Rolle, daß ein Teil der Deutschen etwa siebzig Jahre Diktatur erlebt hat, ohne jede demokratische Erfahrung. Und deren ganze Wut, die Ressentiments und die Enttäuschung werden jetzt von den Rechtsradikalen, auch aus dem Westen, instrumentalisiert. Und wie reagiert der Staat? Derselbe Staat, der Linken gegenüber zu jeder Repression bereit war, zeigt sich plötzlich mildtätig, verständnisvoll und zögernd. Und das ist die zweite Schuld der politischen Klasse.

Auch wenn Sie intellektuelle Politikberatung ja eher ablehnen, was wäre Ihrer Meinung nach zu tun?

Vor allem zwei Dinge: rücksichtslos vorgehen gegen diese politische Kriminalität, mit allen Mitteln, die der Staat zur Verfügung hat. Und dann, wenn wir den Rücken frei hätten, müßten wir zugeben, daß wir ein Einwanderungsland sind und daß wir ein Einwanderungsgesetz brauchen, wie andere Länder auch. In der deutschen Diskussion gibt es etwas sehr Provinzielles, wir sind doch nicht die einzigen, die damit zu tun haben. Schauen wir doch mal, wie es die anderen machen. Ich bin nicht so panisch, ich denke, daß es doch eine schweigende Mehrheit von Demokraten im Lande gibt, die sich jetzt gezwungen sehen, aus der Passivität herauszutreten. Das ist ja das, was jemand wie Weizsäcker versucht. Man kann zwar nicht sagen, wie das ausgehen wird, aber die Partie ist erst eröffnet...

Ist denn die angepeilte Verfassungsänderung in Ihren Augen ein wirksames Mittel zur Lösung des Problems?

Da bin ich auch ein bißchen unorthodox, da ich hier nicht ohne weiteres die linken Standpunkte vertreten würde. Ich bin der Meinung, daß eine Verfassungsbestimmung ohne jeden Vorbehalt als absolutes Recht nicht durchzuhalten ist. Das ist nicht realistisch, das hat auch kein anderes Land. Ich bin dagegen, daß die Deutschen immer den Anspruch erheben, daß sie besser als andere Leute sind. Das ist erstens nicht wahr und zweitens auch nicht wünschenswert. Warum sollen die Deutschen immer Weltmeister sein? Wenn wir Regelungen haben, wie sie zum Beispiel die Holländer haben, dann bin ich zufrieden. Außerdem ist diese juristische Fixierung der Deutschen auch Unsinn. Man kann nicht wegen jeder Sache zum Verfassungsgericht gehen, das ist ein Formalismus und eine Prinzipienreiterei, zwei Untugenden unserer politischen Kultur.

Sie haben mehrfach Ihre Skepsis gegenüber Entwürfen von multikultureller Gesellschaft geäußert. Warum?

Da kann sich auch viel Denkfaulheit dahinter verbergen. Eine Art Tourismus im eigenen Land: Wir haben so schöne ausländische Lokale, da kann man so gut griechisch essen. Das ist natürlich eine Verharmlosung der Konflikte wiederum. Es ist einfach nicht wahr, daß man Hunderttausende von Sinti und Roma problemlos integrieren kann. Es ist nicht wahr, daß der Islam ohne weiteres kompatibel ist mit unseren Gewohnheiten. All diese Auseinandersetzungen werden versteckt hinter dieser Phrase. Ich spreche nicht für die Homogenität der Deutschen, das ist mir ganz fremd, das war ja immer eine Fiktion. Was ich nicht leiden kann, ist die Schönmalerei, die Tendenz zur Harmonisierung: Wir sind ja alle gute Menschen, und da kann ja nichts passieren. Das ist keine Politik.

Was unterscheidet Ihre intellektuelle Intervention von der eines Kollegen wie Grass?

Ich bin zum Beispiel nicht der Meinung, daß wir uns in ein Lager flüchten können und von vornherein sagen, dieses Volk ist böse. Und da ist Grass manchmal gefährlich nahe dran, zu sagen, die Deutschen sind ein faschistisches Volk. Das finde ich ganz fatal. Ich bin im Gegenteil der Meinung, in so kritischen Situationen muß man Bündnisse finden, die sehr weit reichen können. Ich bin bereit, mich mit jedem Demokraten an einen Tisch zu setzen, der gegen den Terror von rechts arbeiten will, unabhängig davon, wie ich über andere Fragen denke. Mit Sektierertum kommen wir nicht weiter. Und fatal finde ich auch das ständige Herumhantieren mit Auschwitz. Die These von Günter Grass, daß die Deutschen die Teilung verdient hätten, finde ich absolut abwegig, hirnrissig. Zumal, da sie von jemand vertreten wird, der den besseren Teil von dieser Strafe erwischt hat.

Es gibt ja nun, gerade im Ausland, die Hoffnung, daß ein neues Europa so ein wildgewordenes Deutschland bändigen kann.

Die europäische Integration wird ja nicht von zwanzig Kommissaren in Brüssel gemacht, sondern von ein paar hundert Millionen Leuten in Europa. Daneben gibt's dann das Maastricht-Europa, das Europa der Bürokraten und Politiker, die hinter verschlossenen Türen beschließen wollen, was Europa sein soll. Und die verwechseln das auch immer: Die meinen, wenn einer Einwände gegen Maastricht hat, dann sei er ein Anti-Europäer. Das ist natürlich wieder eine der Lügen der Politiker, gegen die man sich wenden muß. Ich kann gute Gründe haben, gegen dieses Traktat zu sein, und trotzdem ein engagierter Europäer sein. Ich setze einfach mehr auf die Gesellschaften selbst als auf ihre selbsternannten Vertreter, vor allem dann, wenn sie nicht demokratisch legitimiert sind. Das ist mein grundsätzlicher Einwand gegen die europäischen Institutionen.

Und wie schätzen Sie die Entwicklung des östlichen Teiles Europas ein?

Da bin ich nicht sehr optimistisch. Es wird Gewinner und Verlierer geben. Die Gewinner: im besten Falle vielleicht Ungarn, die tschechische Republik, vielleicht Slowenien. Wenn alles gutgeht, auch Polen. Und es gibt Verlierer. Für ein Land wie Rumänien ist nicht abzusehen, wie es den Anschluß an den Weltmarkt finden soll, ganz zu schweigen von Jugoslawien, das sich selbst im Moment zerstört. Die Serben werden das teuer bezahlen, vielleicht nicht, indem sie bombardiert werden, aber was sie jetzt anrichten, das wird sie zwanzig Jahre kosten, und zwanzig Jahre sind auf dem Weltmarkt nicht mehr einzuholen.

Müßte man denn Ihrer Meinung nach intervenieren?

Wie ich vorhin gesagt habe, man muß nicht immer Weltmeister sein. Wir können auch nicht für alles haften, was auf der Welt passiert. Zwar ist klar, daß die Serben die Aggressivsten von allen sind, aber vielleicht auch nur, weil sie die meisten Waffen haben. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn die Kroaten die stärkere Armee hätten.

Was die Gefahren der zivilen Weltgesellschaft anbetrifft: Sowohl im Fall Salman Rushdie wie auch im Golfkrieg haben Sie ja die Bedrohung durch den Fundamentalismus hervorgehoben.

Ich denke, wir müssen das, was wir an Zivilisation und Demokratie haben, nach innen verteidigen. Aber man kann schlecht sagen, wir verteidigen es nach innen, den eigenen Landsleuten gegenüber, aber nicht einer Bedrohung von außen gegenüber. Ich bin nicht der Meinung, daß die Europäer die Aufgabe haben, die Welt zu missionieren. Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei. Also, der Iran muß wissen, was er tut, und es liegt mir vollkommen fern, denen zu sagen, wie sie ihre Gesellschaft einrichten sollen. Aber in dem Moment, wenn sie auf unserem Territorium mit ihren Spielregeln anfangen wollen, bin ich berechtigt, mich dagegen zu verteidigen. Und bei dieser Verteidigung bin ich kompromißlos und auch ziemlich handfest...

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