piwik no script img

Antiemanzipatorischer Wertewandel

■ betr.: "Grüne GesinnungspolizistInnen im Einsatz", taz vom 6.1.93

betr.: „Grüne GesinnungspolizistInnen im Einsatz“,

taz vom 6.1.93

Die Mitglieder des Ortsverbandes Köln-Mülheim und die Grünen in der Mülheimer Bezirksvertretung verurteilen den Versuch einiger FraktionskollegInnen von Beate Scheffler, ihren kritischen Artikel in der Halbzeitbroschüre der Landtagsfraktion nach alter Manier zu zensieren.

Diejenigen, welche auf diese unfaire Art und Weise das Recht auf freie Meinungsäußerung beschneiden wollen, werden aufgefordert, wieder zu demokratischer Diskussionskultur zurückzufinden. In der Partei der Grünen hatten Meinungen und Ansichten von politisch Andersdenkenden und relevanten Minderheiten ihren Platz [...] Justus Scharnagel, Die Grünen

Köln-Mülheim, Hans Georg Tix,

Die Grünen in der BV Mülheim

Die Behauptung, Mitglieder der grünen Landtagsfraktion forderten oder betrieben eine „Abstrafung“ der amtierenden jugendpolitischen Sprecherin wegen ihrer Mutmaßungen über einen ursächlichen Zusammenhang zwischen emanzipatorischen Erziehungskonzepten und rechtsextrem oder rassistisch motivierter Gewalt von Jugendlichen, entbehrt jeder Grundlage. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung hat für uns einen hohen Wert und deckt auch Meinungsäußerungen, die wir für „gefährlichen Unsinn“ halten. Wir haben unsererseits von diesem Recht Gebrauch gemacht, Beater Schefflers Artikel gewertet und verlangt, daß Fraktion und Partei ihre Behauptungen zurückweisen. In der Tat sehen wir darin „schwarzes“ Gedankengut, das nicht als mögliche offizielle oder „offiziöse“ Meinung der Grünen im Raum stehen bleiben darf. [...]

Seit einiger Zeit sind konservative Bestrebungen erkennbar (ähnlich des seinerzeitigen „Historikerstreits“, um den Nationalsozialismus oder der Neubewertung der früheren Entspannungspolitik gegenüber der DDR), eine „Umwertung“ von 1968 ff. vorzunehmen. Im Landtag eröffnete CDU- Fraktionschef Linssen den Reigen mit der (auch von fast allen Medienkommentatoren als haarsträubend empfundenen) These, die Ursache der rassistischen Gewaltwelle liege in der „Liberalisierungseuphorie der siebziger und achtziger Jahre“. Behauptungen, Konzeptionen und/oder Praxis emanzipatorischer Erziehung sei eine maßgebliche Mitverantwortung zuzuschreiben, fügen sich nahtlos in dieses neu-rechte Argumentationsmuster ein.

Aus unserer Sicht liegt die Ursache der rassistischen Gewaltwelle in den Wechselwirkungen von latentem Rassismus in der Gesellschaft, ungelösten sozialen Krisen, jahrelanger politisch inszenierter „Asyldebatte“ und der dadurch erzeugten Beeinflussung der öffentlichen Meinung auf breitester Ebene. Da die politische Klasse nach erfolgreicher Einigung über eine Grundgesetzänderung nunmehr erheblichen Bedarf nach Entsorgung ihrer – maßgeblichen – Verantwortung hat, wird eine „Ursachendiskussion“ inszeniert, die erstens die rassistische Gewalt als ein „Jugendproblem“ verortet und dementsprechend zweitens die Schuld bei den Sozialisations- und Erziehungsinstanzen sucht. Dies erlaubt es den Konservativen, entweder den „Zerfall der Familie“ (durch Frauenemanzipation) oder die „linken Lehrer“ (der Schulreform-Debatten) an den Pranger zu stellen, um dadurch einem antiemanzipatorischen „Wertewandel rückwärts“ den Weg zu ebnen.

Wenn Walter Jakobs' Behauptung stimmt, es sei mittlerweile „außerhalb des linksgrünen Landtagsmilieus“ unstrittig, daß linke PädagogInnen mitverantwortlich sind für rassistische Orientierungen unter Jugendlichen (was ich entschieden bestreite), so würde das lediglich zeigen, wie weit die reaktionäre Umwertung bereits gegriffen hat und wie notwendig die Formierung einer Opposition gegen diesen Prozeß ist. Daniel Kreuzt, arbeits-

und sozialpolitischer Sprecher,

Die Grünen im Landtag NRW

[...] Zur offenen Freude der Rechten werden jetzt also die Ursachen des Rechtsradikalismus bei „linken“ Lehrern und „antiautoritärer“ Erziehung gesucht, statt im realen bundesrepublikanischen Alltag, der nicht zuletzt Folge herrschender Politik ist!

Denn daß das Projekt der Freiheit auch scheitern kann, ist nicht gerade neu: „Frei werden von etwas heißt auch losgelassen sein... Wichtig aber wird sogleich, wohin und wozu das Lossein loslegt... Ein Austritt schlechthin... hinterläßt so eine Leere, die auf die Länge gar nicht fähig ist, sauber zu bleiben, wie in der Aufklärung doch gewollt war. Die bloß halbe Aufklärung kann hier nicht durchhalten, sie bringt zwar nicht mehr die alte Heuchelei; dafür aber ist sie fähig, noch anders als pfäffisch dumm zu machen, ...später, trüb-gefährlich, schrecklicher Ersatz wie Blut und Boden“ (Ernst Bloch, 1968!).

Der Aufklärung, die dem Herrn im Himmel das Fundament und den Herren hier unten die Legitimation entzog, kann trotzdem kaum die „Schuld“ für den Rückfall in die Barbarei des Nationalsozialismus gegeben werden. Der 68er-Revolte nun, weil sie sogenannte Sekundärtugenden wie Pflichtgefühl etc. demontierte, für ein Wiedererstarken des Neonazismus und Rechtsradikalismus verantwortlich machen zu wollen, ist ebenso unsinnig: es ist nicht ihre „Schuld“, neue Freiheiten erkämpft zu haben, sondern eher ihr Verdienst – wenn sie es denn ganz geschafft hätte! Einschränkend muß hinzugefügt werden, daß hier trotzdem ein Versagen vorliegt, nämlich das, der hinzugewonnenen Freiheit nicht genügend Inhalt und Richtung gegeben zu haben.

Das Feld hat der Kommerz gefüllt. Die Medaille der bürgerlichen Freiheit hat eben zwei Seiten: Kopf und Zahl, Geist und Kommerz.

Gesiegt hat allemal der Kapitalismus, er „siegt“ sich buchstäblich zu Tode. Und gerade weil dieser Wahnsinn keine Zukunft hat, keine Hoffnung mehr geben kann, ist Medienrausch und Konsumbetäubung die letzte Sicherung. Es war ja nun in fast allen Befragungen rechter Skins nachzulesen, daß diese sich nichts mehr wünschen als ein ganz „normales“ Familienleben, mit trautem Heim und Glück allein. Die Sicherungen knallen ihnen durch, weil sie nur noch das Flimmern auf dem Fernsehschirm sehen: keine Lindenstraße, nur noch Bildstörung.

Wenn also emanzipatorische Erziehung gescheitert ist, dann aus diesem Grunde: sie ist nicht angekommen, im Medienrauschen untergegangen. Ellhard Behrends, Ganderkesee

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen