: Wenn Großmutters Juwelen fehlen
Argentiniens Regierung verschleudert die Staatsbetriebe/ Wenn der letzte verkauft ist, fehlt dem Staat die wichtigste Einnahmequelle ■ Aus Buenos Aires Astrid Prange
Der Startschuß im Wettrennen gegen die Zeit ist gefallen: wenn Argentiniens Regierung nicht bald neue Einnahmequellen findet, droht dem südamerikanischen Land der Rückfall in den Teufelskreis aus Inflation und Verschuldung. Seit dem Amtsantritt von Präsident Carlos Menem, dessen neoliberale Reformen von IWF und Weltbank mit üppigen Krediten unterstützt werden, ist die Inflationsrate deutlich gesunken – von 200 Prozent im Juli 1989 auf heute 0,7 Prozent im Monat.
Viele Argentinier fürchten jedoch, daß die Regierung sich bald erneut verschulden muß, weil eine wichtige Einnahmequelle kurz vor dem Versiegen steht: die Privatisierung maroder Staatsbetriebe, die Argentiniens leere Staatssäckel auffüllt, neigt sich dem Ende zu. Eine alternative Geldquelle ist nicht in Sicht.
Die minimale Inflationsrate Argentiniens ist das Ergebnis der sogenannten Dollarisierung: der Wechselkurs zwischen der Landeswährung Peso und dem US-amerikanischen Dollar beträgt eins zu eins. Dies bedeutet, daß der zirkulierenden Geldmenge in Pesos in der Zentralbank der gleiche Wert an Reserven in Devisen gegenüberstehen muß. Eventuelle Löcher im Staatshaushalt dürfen nicht schlicht und ergreifend durch die Herausgabe von zusätzlichen Pesos gestopft werden.
Bis jetzt hat die argentinische Regierung ihr Budget aus den Einnahmen der Privatisierung bestritten. In den vergangenen drei Jahren trennte sie sich ohne Rücksicht auf Verluste von „Großmutters Juwelen“, wie die öffentlichen Betriebe in Argentinien genannt werden. Dazu gehören die Telefongesellschaft Entel, Elektrizitäts- und Wasserwerke, Radio- und Fernsehstationen, 10.000 Kilometer Bundes- und Landstraßen, Eisenbahnen, Häfen sowie die Fluglinie Aerolinas Argentinas.
Die teilweise höchst umstrittene Veräußerung von Omas Erbgut, besonders in den Fällen der Telefongesellschaft Entel und der Fluggesellschaft Aerolinas Argentinas, stockte die öffentlichen Kassen nach offiziellen Angaben mit knapp sechs Milliarden Dollar auf. Die Auslandsschuld Argentiniens verringerte sich um neun Milliarden auf insgesamt 70 Milliarden Dollar.
Die wertvollsten Juwelen sollen in diesem Jahr unter das auserlesene Volk der internationalen Finanzwelt gebracht werden: Der Mineralölkonzern YPF, die Notenbank, Post, Handelsmarine sowie das System der Altersversorgung stehen zur Disposition. Allein vom Verkauf der YPF, dessen Privatisierung in diesem Monat vom argentinischen Parlament gebilligt wurde, verspricht sich Wirtschaftsminister Domingo Cavallo acht Milliarden Dollar Einnahmen. Die Privatisierung der Altersversorgung gilt als Geschäft des Jahrhunderts. Die Aussichten auf jährliche Einnahmen von 3,5 Milliarden Dollar versetzen die potentiellen Käufer regelrecht in Trance.
Der Begeisterungstaumel der argentinischen Bevölkerung hält sich hingegen in Grenzen. Mehrere hunderttausend ArgentinierInnen haben durch die Privatisierung ihren Job verloren. Durch den Verkauf des argentinischen Telefonnetzes an die staatlichen Telefongesellschaften Frankreichs und Spaniens ist der direkte Draht zur Außenwelt unglaublich teuer, jedoch nicht wesentlich besser geworden. Allein die Grundgebühr für ein internationales Telefon kostet in Argentinien 78 Dollar pro Monat. Die Veräußerung der Aerolinas Argentinas an die staatliche spanische Fluggesellschaft Iberia war ein Desaster. Um das Unternehmen vor dem endgültigen Aus zu bewahren, mußte die argentinische Regierung im vergangenen Jahr den Spaniern ein Drittel der Aktien wieder abnehmen.
Die argentinische Zeitung Pagina 12 konstatiert ein Mißverhältnis zwischen dem Verlust von öffentlichen Vermögen und Gütern und dem immer noch hohen Schuldenberg: „Die Auslandsschulden sind nicht viel geringer als 1989“, kritisiert die Zeitung. Außerdem sei durch die massive Verschiebung von öffentlichem Eigentum die Herausbildung von Wirtschaftsmonopolen zu befürchten, die den Staat gefährlich unter Druck setzen könnten.
Paginas 12 führte ihren LeserInnen kürzlich vor, daß die Zusammenarbeit zwischen der argentinischen Regierung und der Industrie bereits jetzt reibungslos funktioniert. Wirtschaftsminister Domingo Cavallo vertraute der Zeitung an, daß er selbstverständlich nicht von seinem monatlichen Einkommen in Höhe von 2.000 Dollar leben könne. Dank Dollarisierung gehört Buenos Aires mittlerweile zu den teuersten Städten der Welt. Selbst ein ordinärer „Hamburger“ ist dort unter acht Dollar nicht zu bekommen. Harvardabsolvent Cavallo läßt sich sein 10.000-Dollar- Einkommen von der Wirtschaftswelt finanzieren. Das scheint normal zu sein. „Die Privatisierung verläuft hierzulande äußerst korrupt“, sagen durchaus auch Regierungsbeamte.
Sogar Nobelpreisträger Milton Friedman meldete kürzlich Kritik an der Art der argentinischen Privatisierung an: Staatsbetriebe schlicht zum Verkauf feilbieten, sei bereits prinzipiell ungünstig. „Die Versteigerung jedoch, wie sie die argentinische Regierung betreibt, ist Betrug am Volk“, kritisiert der Wirtschaftswissenschaftler. Er schlägt vor, statt dessen Aktien der Betriebe auszugeben.
Doch die Wahrscheinlichkeit, daß die Regierung Menems auf die weisen Ratschläge Friedmans hört, ist sehr gering, denn sie braucht dringend Geld. Zwar sind die Steuereinnahmen in den letzten beiden Jahren ständig gestiegen. Doch allein um die Auslandsschulden zu bedienen, braucht Argentinien in diesem Jahr fünf Milliarden Dollar.
Die Exporterlöse werden der Regierung dabei nicht behilflich sein. Wegen der Dollarisierung und der damit verbundenen Überbewertung des argentinischen Peso fiel die Bilanz 1992 negativ aus: über zwei Milliarden Dollar Verluste weist die Außenhandelsbilanz aus.
Nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftler Angel Diez kann die Überbewertung des Peso in diesem Jahr eine Rezession auslösen. „Es gibt alarmierende Anzeichen dafür, daß die Arbeitslosigkeit auf zehn Prozent ansteigt“, meint der Redakteur des argentinischen Wirtschaftsmagazins Mercado.
Schon jetzt leben 30 Prozent der argentinischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze. RentnerInnen, die mit 150 Dollar im Monat auskommen müssen, erschießen sich aus Verzweiflung auf Kinderspielplätzen. Außerdem ist die Cholera, Krankheit der Armen, wieder auf dem Vormarsch: allein in der ersten Januarhälfte wurden 382 neue Erkrankungen registriert.
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