: Lebensrecht gegen Sterbehilfe
■ Euthanasie-Debatte in Bremen-Nord: „Akt der Menschlichkeit“ oder „Entsorgung“ / Ist die Lehre wirklich frei?
Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, daß sie dumm sind?“ Der Bremer Behindertenpädagoge Wolfgang Jantzen sprang mit Wucht in die lauten Gedanken eines Philosophiestudenten. Der ließ sich gerade über die „Plicht zu leben“ aus. Es war Mittwoch abend. Die Stimmung war aufgeheizt im Sozialverwaltungszentrum in Bremen Nord. Kito-Kontrovers, eine Diskussionsreihe, hatte 300 Leute in den überfüllten Saal gelockt. Auf dem Programm stand das heiße Thema „Zur Schwierigkeit der Euthanasiedebatte".
Für die provozierenden Thesen des Abends sorgte der Moralphilosoph Rainer Hegselmann. Man dürfe die Diskussion über Sterbehilfe nicht abwürgen, nur weil man ein böses Ende befürchte. Wer behaupte, die Frage nach Sterbehilfe für schwerstbehinderte Neugeborene und Alte stelle das Lebensrecht behinderter Menschen in Frage, müsse diese Behauptung auch beweisen. Hegselmann stellte sich vor den australischen Ethikprofessor Peter Singer. Es sei eine Unterstellung, daß der Behinderten das Lebensrecht bestreite.
Horst Frehe, Sozialrichter und Vorsitzender des Vereins „Selbstbestimmt Leben“, warf Hegselmann vor, daß er „Singer nicht so gut kenne, wie man es erwarten könne“. Singer stelle sehr wohl das Leben Behinderter in Frage. Frehe zitierte aus einem Singer-Buch: „Wir töten Affen, Rinder und Hunde, warum dann nicht auch schwerstgeschädigte Neugeborene?“.
Wolfgang Jantzen zog historische Parallelen. Die aktuelle Sterbehilfe-Debatte erinnere ihn an das T4-Euthanasie-Programm der Nazis. Er forderte Diskussionen über Behindertenförderung. Stattdessen überlege man, wie man ihre Ermordung legitimiere. Moralphilosophen sind für Jantzen „Handlanger der Mächtigen“. Ihre Denkform charakterisierte er so.“ „Legal, alles legal, bis zur letzten Leitersprosse legal, aber gehenkt wird doch!“
Horst Frehe führte auch noch juristische Gründe an. In Artikel zwei Absatz zwei des Grundgesetzes sei ein grundsätzliches Lebensrecht für alle Menschen garantiert. Das sei an keinerlei Qualitäten oder Bedingungen gebunden. Hegselmann versuche, für dieses „Recht einen Begründungszwang“ und eine „Nutzenkalkulation“ einzuführen.
Dabei sei es unzulässig, die Frage nach dem größten Nutzen
Podiumsdiskussion in Bremen-Nord: Horst Frehe, dahinter Henning ScherfFoto: Björn Hake
menschlichen Lebens zu stellen.
Frehe bezweifelte auch, daß „Singers Thesen eine angemessene Ausbildung der BehindertenpädagogInnen an der Uni- Bremen sind“. Wissenschaftssenator Henning Scherf, der die Moderation der Diskussion übernommen hatte, fühlte sich angesprochen: „Die Freiheit der Gedanken und ein ursprüngliches Recht der Vernunft schüt
hier bitte das
Foto von der Diskussion
zen die Lehrenden. Es kommt nicht in Frage, daß ich in die Lehre eingreife.“
Dann griff auch das Plenum in die Debatte ein. Eine Mutter sagte, daß sie „das Glück ihres behinderten Kindes nicht mit dem ihres nichtbehinderten aufwiegen“ könne.
Ein junger Rollstuhlfahrer kündigte Hegselmann an, daß Behinderte „immer versuchen
werden seine Vorträge zu verhindern, solange er auf diesem Niveau diskutiert“. Anne Vetter von der Lebenshilfe, erklärte, „daß bei uns sehr viele Menschen über 50 sind, die angeblich nur wenige Wochen leben sollten“. Arndt Mertens, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Philosophie, sah die Ursache des Streites in „argumentations-theoretischen Defiziten“. Schließ
lich wollten alle DiskutantInnen „Leiden minimieren“. Eine Einigung darüber sei aber wohl nicht zu erzielen.
Anne Stein sah das anders. Die Frau vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband erklärte: „Das Leiden der Betroffenen ist das, was die Gesellschaft ihnen antut. Herr Hegselmann, ihre Lösungen sind Entsorgungen.“ Marc Wiese
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