: Alpträume nach dem Test
Jedes Gesundheitsamt vermittelt anonyme und kostenlose HIV-Antikörpertests/ Stefan und Kirsten haben sich zum Test durchgerungen/ Der Test als „beziehungsdefinierendes Moment“ ■ Aus Berlin Corinna Raupach
„In unserem Alter hat doch jeder eine Leiche im Keller“, sagt Stefan F. (26) (Name von der Redaktion geändert) auf die Frage, warum er sich zu einem anonymen Aidstest entschieden habe. Bei seiner letzten Beziehung sei die Wahrscheinlichkeit, daß seine Partnerin infiziert gewesen sei, zwar nicht groß gewesen, und meistens hätten sie auch ein Kondom benutzt, aber man wisse ja nie. Seit einem halben Jahr ist er mit Kirsten (25) zusammen. „Der Gedanke, ich könnte vielleicht ihr Tod sein, war für mich furchtbar.“ Ihr Risiko schätzt er noch größer ein. „Ihr letzter Lover hatte neben ihr offensichtlich noch weitere Damenbekanntschaften.“
Als sie nach reiflicher Überlegung im Wartezimmer der Aids- Beratung im Schöneberger Gesundheitsamt sitzen, werden sie doch nervös. Von der Wand herab blickt sie ein junger Mann mit fleckigem Gesicht und dünnen Armen vorwurfsvoll an. „Aids hat ein Gesicht. Du bist gefordert“, heißt es. Die Aids-Hilfe zeigt die HIV- Sportgruppe des Vereins beim Bergsteigen. Der runde Holztisch, die Regale auf beiden Seiten der Plastikstuhlgruppe sind voll von Broschüren. „Aids und Frauen“, „Wegweiser Aids“, „Aids – heutiger Wissensstand“, „Aids und andere sexuell übertragbare Krankheiten“. „Da muß doch jeder glauben, er sei krank“, stöhnt Stefan bedrückt. Auch die Miene eines weiteren Wartenden, eines jungen, schlanken Mannes mit dunklen Haaren und blasser Haut, ist nicht eben aufmunternd. „Irgendwie ist mir, als würden wir erst durch diesen Test Fakten schaffen und hätten es nicht schon längst getan – gegebenenfalls“, sagt Kirsten leise.
Während sie sich hinter einer Zeitung verschanzt, liest er in den ausliegenden Broschüren, daß jeder ungeschützte Geschlechtsverkehr ein Risiko bedeutet, daß Menstruationsblut hochgradig infektiös ist und Frauen während ihrer Tage aufgrund der großen Wunde besonders gefährdet sind – „und gerade da haben wir das Kondom weggelassen, weil uns das verhütungstechnisch unbedenklich erschien“.
Stefan wird zuerst in das Beratungszimmer der Ärztin gerufen. In dem kleinen sonnigen Zimmer bietet Christine Hoffmeier ihm zunächst einen Sessel am Fenster an. Warum er den Test machen wolle, fragt sie, und wann der letzte ungeschützte Geschlechtsverkehr stattgefunden habe. „Der Test weist nämlich nicht das Virus nach, sondern die HIV-Antikörper, die sich innerhalb von sechs bis zwölf Wochen bilden. Erst nach diesen zwölf Wochen können Sie ein sicheres Ergebnis erhalten.“ Sie hakt noch ein paarmal nach, ob er auch gleichgeschlechtlichen Verkehr gehabt habe, mit Kondomen umzugehen wisse und regelmäßig welche benutze. So wie er die Situation schildere, gehöre er nicht zu einer der sogenannten Hauptbetroffenengruppen, allerdings bestehe durchaus ein gewisses Risiko, meint sie. „Vor allem kann ein solcher Test als beziehungsdefinierendes Moment für sie beide wichtig sein.“
Aus dem offenen Regal hinter ihrem Schreibtisch holt die Ärztin eine Einwegspritze. „Haben Sie Probleme beim Blutabnehmen?“ fragt sie vorsorglich, ehe sie seinen Arm abbindet. Sorgfältig wischt sie die Armbeuge mit Desinfektionsmittel ab, um schnell und sicher in eine der sich bläulich abhebenden Venen zu stechen. Um nicht auf die rasch in die Kanüle laufende dunkelrote Flüssigkeit schauen zu müssen, studiert er angestrengt die Anwendungsanleitung für das „Kondom für die Frau“, die an der Wand hängt. „Es sind nur zehn Milliliter, das ist gerade ein Schnapsglas voll“, beruhigt Frau Hoffmeier und reicht ihm einen Wattetupfer, den er auf den Einstich drücken soll. Die Spritze wird in einem Plastikröhrchen verwahrt, das mit derselben Nummer versehen wird, die Stefan auf einem Kärtchen zum Mitnehmen erhält. „In einer Woche können Sie sich mit dieser Nummer Ihr Ergebnis abholen“, meint sie.
Die dunkelhaarige junge Ärztin mit der vertrauenerweckend tiefen Stimme hat sich den Job ausgesucht. Sie habe allerdings selbst eine Weile gebraucht, um sich auch emotional deutlich zu machen, daß ihr eigenes Infektionsrisiko dabei ein sehr geringes ist, sagt sie. Mit fast zwei Prozent Infizierten liegt sie über dem Berliner Durchschnitt. Von den etwa 6.000 Tests pro Jahr in Berlin fällt knapp ein Prozent positiv aus. „In Schöneberg leben sehr viele Schwule, und unter denen sind immer noch viele Unverbesserliche.“ In der heterosexuellen Szene seien ihren Erfahrungen zufolge häufig Männer für die Verbreitung des Virus verantwortlich, die sich als Sex-Touristen in Thailand angesteckt hätten. Einige ihrer Klienten kommen auch immer wieder. „Die ändern ihr risikobehaftetes Verhalten überhaupt nicht, scheinen aber den Eindruck zu haben, als ob sie mit den Tests etwas für ihre Gesundheit tun könnten, wie mit Blutdruckmessungen oder Krebsvorsorge.“
Nicht nur in Berlin vermittelt jedes Gesundheitsamt anonyme und kostenlose HIV-Antikörpertests. „Die Anonymität bleibt in jedem Fall gewährleistet, niemand muß seinen Namen auch nur nennen“, sagt Peter Bargstedt, Referatsleiter für sexuell übertragbare Krankheiten in der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit. „Die Tests sind freiwillig, es gibt keine Situation, in der jemand dazu verpflichtet werden könnte.“ Daß man in Deutschland hauptsächlich auf Aufklärung und Eigenverantwortlichkeit setze, habe sich bewährt. Entgegen früheren Befürchtungen hat sich der Anstieg der Neuinfektionen verlangsamt. „Auch von einem Einbruch in die heterosexuelle Szene kann man noch nicht sprechen. Hauptsächlich betroffen sind immer noch Schwule und intravenös Drogenabhängige.“ Derzeit sind in Berlin 55.527 Personen HIV-infiziert, von den 9.205 Erkrankten sind bereits über die Hälfte gestorben.
Klaus-Peter Paschke leitet die Aids-Beratungsstelle des Gesundheitsamtes Berlin-Wedding. An der unauffälligen Klingel des großen grauen Wohnhauses direkt hinter der alten Nazarethkirche steht „Aids und Drogen“. Die Räume der ehemaligen Altbauwohnung im zweiten Stock sind funktional. Nur auf dem Gang und im Wartezimmer werben Plakate für Kondome und Safer Sex. – „Die meisten Leuten wollen zu Beginn einer neuen Partnerschaft für sich Bilanz ziehen“, sagt Paschke. Andere kämen wegen Schwangerschaft, Urlaubsaffären, Bluttransfusionen, Vergewaltigungen oder weil sie beruflich exponiert seien, als Zahnärzte oder Krankenschwestern zum Beispiel. „Es kommt auch schon mal der biedere Familienvater, der mit seiner Frau und seinen zwei Kindern gut auskommt, sich aber auf Geschäftsreise schon mal einen Knaben antut.“ Bei aktuellen Seitensprüngen gilt die 12-Wochen-Frist. „Der muß sich dann überlegen, wie er seiner Frau erklärt, daß er in den nächsten drei Monaten nur noch mit Gummi mit ihr schlafen will.“
Dafür sei dann die Gewißheit über eine Infektion so groß, wie es in der Medizin irgend möglich sei. „In ganz seltenen Fällen kann es auch zu einem sogenannten zweifelhaften Befund kommen. Entweder ist dann die Blutprobe zu früh entnommen, die Reagenzien im Labor sind irgendwie verunreinigt, oder es besteht eine Kreuzreaktion mit anderen Antikörpern“, sagt Heide Günther, die als Ärztin in der Weddinger Beratungsstelle arbeitet.
Auch im Wedding ist die Beratung umfangreicher als der Test selbst. Neben der Aufklärung über den Test geht es darin um Fragen zum Thema Aids, zu Infektions- und Präventionsmöglichkeiten. „Es sind manchmal auch ganz junge Männer da, die eigentlich nicht gefährdet sind. Wenn die aber rausgehen und können mit Kondomen umgehen, war es nicht umsonst. Wir haben hier ein Modell zum Üben. Sie bekommen welche mit und können für sich probieren“, sagt Günther.
Eine Woche kann lang sein. „Haben Sie sich gefragt, was Sie machen, wenn Sie infiziert sind?“ hatte Ärztin Christine Hoffmeier gefragt. Stefan und Kirsten fragen sich das in dieser Woche immer wieder. Was heißt das für eine Beziehung, wenn einer oder beide infiziert sind? Wer wird wem die Schuld geben, wer kann sich vorstellen, wen zu pflegen? Aber auch: welche Krankenkasse zahlt die möglicherweise horrenden Pflegekosten? Wovon sollen sie leben, wenn sie nicht mehr arbeitsfähig sind? Als Jungakademiker haben sie noch so gut wie keine Renten- und Sozialversicherung gezahlt, da bleibt dann nur die Sozialhilfe. „Ich habe mich gefragt, ob ich meine Promotion dann überhaupt fertig machen soll“, sagt Stefan. Kirsten überlegte, ob sie sich um eine Stelle im öffentlichen Dienst bemühen sollte, „wegen der Sicherheiten“.
„Die Diagnose Aids trifft Menschen meistens in einer Phase, wo für sie beruflich und sozial alles beginnt“, sagt Keikawus Arasteh, Oberarzt an der Aids-Station im Berliner Auguste-Viktoria-Krankenhaus. Seine Patienten sind vor allem junge Männer, die ihre mageren Körper vorsichtig durch die Linoleumgänge bewegen. Im Aufenthaltsraum läuft der Fernseher schon morgens. „Aufgrund der medizinischen Fortschritte ist die Lebenserwartung HIV-infizierter Menschen erheblich gestiegen“, sagt Arasteh. Heute kann man acht bis zehn Jahre mit der Krankheit leben.
Sie sind dann aber nicht nur länger, sondern auch schwerer krank. Neben persönlichen Tragödien, wie sie der Verlust von Freundschaften, Vertrauen und Sexualität bedeuten, stellt sich aber auch massiv die Frage nach dem Lebensunterhalt. Den jungen Menschen bleibe oft nur der Sozialhilfesatz, da sie kaum Sozialbeiträge gezahlt hätten. Viele seien zusätzlich hoch verschuldet. „Der finanzielle und soziale Kollaps ist oft kaum abzuwenden.“
Eine Woche später sitzen Stefan und Kirsten wieder im Wartezimmer. In der halben Stunde, wieder unter dem anklagenden Blick des jungen Mannes mit den dünnen Armen, wieder mit einer anderen trübselig vor sich hin schweigenden Wartenden, reden sie kaum ein Wort. Nur ihre Hand tastet zögernd nach seiner und hält sie fest. „Ich hatte die ganze Nacht Alpträume. Ich sah immer nur Testergebnisse, mal positiv, mal negativ. Essen konnt' ich heute morgen auch nichts“, gesteht sie.
„Sie können ruhig zusammen reinkommen“, lädt Christine Hoffmeier ein. Sie geben ihre Karten ab und können den Laborbefund einsehen. Auf dem weißen Zettel steht ihre jeweilige Nummer neben der Testnummer des Labors. Das Testergebnis steht auf der Rückseite: „Nicht reagierend“, heißt es. „Das heißt, daß bei Ihnen keine HIV-Antikörper nachgewiesen werden konnten und daß Sie entsprechend nicht HIV-infiziert sind“, sagt die Ärztin. „Haben Sie sonst noch Fragen?“
Auf den Steinstufen des nüchternen Treppenhauses, zwischen einer hinaufhastenden Sekretärin und einer Frau, die auf die Frage nach der Tuberkuloseuntersuchung die Antwort: „Zweiter Stock, hier ist Krebs!“ erhält, lehnt Kirsten sich mit weichen Knien an die Wand. „Jetzt gehen wir erst mal frühstücken!“ „Welt, du hast uns wieder!“ grinst Stefan.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen