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Freiheit beginnt im Kopf

Ein Ashram für das Selbstbewußtsein der verarmten niederen Kasten in Indien  ■ Von Gisela Buddee

Der Platz ist eine einzige Staubwolke. Etwa ein Dutzend Männer laufen zwischen Kreidestreifen hintereinanderher, um einen zu fangen, der sich dem drohenden Zugriff im letzten Moment nur durch einen Sprung hinter die Linie retten kann. Im aufwirbelnden Sand ist er dabei kaum zu erkennen. Dann Freudenschreie, Jubel – sie haben ihn also doch noch erwischt, am Fuß berührt, er war nicht ganz so schnell, wie es ausgesehen hat. Jetzt wechseln die Mannschaften die Seiten, die Jagd beginnt von vorn. Das Spiel heißt Kabaddi, und jedes Kind in Indien kennt es. Das Spielfeld ist einfach herzustellen. Man braucht nur ein Sandfeld, damit sich keiner verletzt, wenn er hinfällt, und Kreide, um die Linien der Spielfelder immer wieder neu aufzuhäufeln.

Die 15 bis 35 Jahre alten Männer, die sich hier auf dem Spielfeld vergnügen, haben beides erst vor wenigen Wochen gelernt, das Spielen und das Vergnügen. Vor allem die Jüngeren unter ihnen haben schnell Gefallen an dem täglichen Zeitvertreib gefunden. Viele der Älteren stehen noch als Zuschauer am Rand und beobachten die schnellen Spieler. Das soll sich heute ändern.

Ein Jeep brummt über den Waldweg heran und hält. Ein Mann steigt aus und geht auf die Spielergruppen zu. Vielstimmiges „Namasté“, der übliche Willkommensgruß, klingt ihm entgegen. Die Männer umrunden den Besucher im baumwollenen Gandhi- Gewand und folgen jedem seiner Worte mit gespannter Aufmerksamkeit. Bald bittet er sie weiterzuspielen, lacht mit ihnen und kommentiert das Geschehen, dann tippt er seinen Nebenmann an und fordert ihn zum Mitmachen auf. Der murmelt zuerst verlegen, beginnt dann jedoch, sich umzuziehen. Dabei wird das windelähnlich um Leib und Beine gewickelte Tuch hier und dort festgezurrt, das Hemd ausgezogen, und schon kann es losgehen.

Und wie es losgeht. Nach ersten unsicheren Schritten auf dem Spielfeld stürzt die Meute der Gegenpartei heran, und der neue Spieler wird zum hakenschlagenden Kaninchen, das die Verfolger foppt und gewinnt. Gelächter, Beifall, und wieder hat einer ein Stück Selbstsicherheit gewonnen. Genau darum geht es hier. Die sechzig Männer, die sich drei Monate lang jeden Mittag hier versammeln, sollen in dieser Zeit in Alltag, Arbeit und Spiel lernen, sich selbst zu behaupten, zu vertreten und zu verteidigen.

Kailash Satyarthi, der Mann, dem hier soviel Aufmerksamkeit zuteil wird, ist Generalsekretär der „Bonded Labour Liberation Front“, einer Organisation, die sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschen aus Sklaverei zu befreien. Sklaverei in Indien? Kailash besteht auf dieser Bezeichnung. „Indien ist die größte Demokratie der Welt, zahlenmäßig“, sagt er. „Es gibt für alles wunderbare Gesetze. Die Sklaverei ist längst abgeschafft, und doch gibt es Hunderttausende, die in totaler Abhängigkeit leben. Sie gehören ihrem Arbeitgeber. Sie bekommen keinen Lohn. Sie dürfen sich nicht frei bewegen und können auch keine andere Arbeit suchen. Sie haben nichts. Sie leben wie Tiere, ohne Würde und ohne menschliche Werte. Warum also soll man das anders nennen?“

Schnell und unversehens sind eigentlich alle in die Situation hineingeraten, aus der sie sich nun wieder herausarbeiten sollen. Das Unglück kann mit den gesellschaftsüblichen Ritualen beginnen, zum Beispiel mit der Notwendigkeit, eine Beerdigung auszurichten, dafür Holz zu kaufen, den Priester zu bezahlen. Da bittet man den Arbeitgeber, die Kosten vorzustrecken, und die können so hoch sein, daß sie den Rest des freien Lebens kosten. Oder die Mitgift für die Tochter, auch diese gesetzlich längst abgeschafft. Und doch erlebt sie seit einigen Jahren eine – für viele unbezahlbare – Renaissance. Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit und Krankheit in der Familie – es gibt unzählige Gründe, die der Anfang vom Ende sein können.

Die Gesetze, erklärt Kailash, erreichen diese Menschen nicht. Die meisten von ihnen können weder schreiben noch lesen. Selbst wenn sie es könnten, wie sollten sie ihre Rechte durchsetzen, die sie nicht kennen? Die gesellschaftliche Tradition, in der sie leben, lehrt sie außerdem, sich der Unveränderlichkeit ihres Schicksals zu beugen. Man wird in eine Kaste hineingeboren, auch wenn das Kastenwesen offiziell längst abgeschafft ist und keinem aus der Situation seiner Geburt Nachteile entstehen sollen. Aber diese Männer stammen alle aus niederen Kasten, deren gesellschaftlicher Platz ihrer Ansicht nach ganz unten bleibt, durch nichts und niemanden veränderbar. Als Mitglied dieser Kasten kann man nur einfache und niedere Arbeiten verrichten. Keiner darf zum Beispiel kochen, denn wer sollte essen, was ein Niederer zubereitet hat? Nur wer in die höchste Kaste der Brahmanen hineingeboren ist, kann Priester oder Koch werden. „Das heißt“, folgert Kailash, „eine Befreiung muß immer auch eine Befreiung im Kopf sein.“ Die wirtschaftliche Entwicklung führe zu immer mehr Arbeitslosen, die technologische zu immer kleineren Löhnen, die für das Leben nicht reichen. „man kann viele auch Entwicklungsopfer nennen“.

Der nächste Lernschritt für diese Spielzeit beginnt: Schüler spielen gegen Lehrer. Einen Guru in den Sand zu werfen erfordert schon ein beachtliches Maß an Respektlosigkeit und Selbstbewußtsein. Das zu lernen hat drei Wochen gedauert.

Kailash überprüft in der Zwischenzeit den Fortschritt des Neubaus am Rande des Platzes. Ein Mann schneidet Stroh zurecht, ein anderer deckt das Dach. In kurzer Zeit wird hier ein überdachter Versammlungsraum benutzbar sein, zum Reden, Spielen, Essen. Die Lehrer haben mittlerweile gewonnen. Zu Fuß geht es zum nahen Mukti-Ashram in Ibrahimpur Village am nordöstlichen Rand von Delhi. Waschen, einen Schluck Wasser gegen Staub und Hitze, und während die einen sich ausruhen, eilen die, die Küchendienst haben, zum Koch, um ihm an die Hand zu gehen.

Der dreimonatige Befreiungskurs wird von den Männern selbst verwaltet. In wechselnden Gruppen beschließen sie, was es zu essen gibt, und gehen einkaufen. Viele von ihnen haben zum erstenmal seit Jahren Geld in der Hand – und kochen, von zwei Köchen unterstützt. Sechzig Männer zu versorgen lernt man auch hier nicht im Handumdrehen. Ganz davon abgesehen, daß man Gästen gegenüber höflich ist, will nun einer wissen, ob die Europäerin – Frau und kastenlos, aber doch eine Weiße – das Wasser annimmt, das sie alle trinken. Sie trinkt es, und das ist offensichtlich wieder ein Erfolgserlebnis. Wird sie zum gemeinsamen Essen bleiben? Sie wird.

Küche, Büro, Schlaf- und Arbeitsräume sind im Quadrat um einen großen Hof mit Bäumen und Blumenbeeten angeordnet. Die Webarbeiten, mit denen einige der sechzig Männer ein neues Handwerk lernen, zeigen einfache Muster in klaren Farben. Mit dieser Fähigkeit gibt es gute Chancen, einen bezahlten Job zu bekommen. Andere sitzen jeden Morgen um fünf vor den Nähmaschinen, die nach dem Üben wieder ins Haus getragen werden. Sie sind zu kostbar, als daß man sie Wind und Wetter oder gar Dieben aussetzen lassen könnte. „Wenn wir für 1.000 Rupien eine Nähmaschine kaufen, kann einer 100 Rupien am Tag damit verdienen“, erläutert Kailash, dann ist er selbständig und frei. Und alle in seinem Dorf können sehen, daß er es geschafft hat.

Ähnlich pragmatisch sind die anderen Arbeitsangebote geplant: der Umgang mit Holz, aus dem man Möbel herstellen kann, die Grundzüge der Landwirtschaft, bei der man das Gedeihen der jungen Pflanzen beobachten kann. „Unsere Arbeit hat erst dann einen Sinn“, sagt Kailash, „wenn die Männer Vorbildfunktion in ihrem Dorf haben können.“ Sechzig Männer leben, arbeiten, spielen zur Zeit im Ashram, jeder von ihnen kommt aus einem anderen Dorf, „denn einer kann genügen“. Allerdings ist es schon schwer geFortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

nug, aus jedem Dorf einen zu gewinnen, der bereit ist, sich der Mühe der Schulung zu unterziehen, und der sich davon überzeugen läßt, daß es möglich ist, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. „Wenn unsere Leute in die Dörfer gehen, ist es schon schwer zu erfahren, wer dort in Sklaverei lebt. Wenn man sie fragt, geht es ihnen gut, und sie sind zufrieden. Es ist sehr mühevoll.“ Wichtig ist außerdem, genügend Männer aus einer Region zusammen auszubilden. Die Vielzahl der Dialekte läßt keine Verständigung von Männern aus unterschiedlichen Gegenden zu.

Nach dem Essen wird Theater gespielt. Die Regisseure haben eine Weile getuschelt und Requisiten angeschleppt, bunte Schals wurden kichernd nach nebenan getragen, und nun tippelt ein schüchternes, total verschleiertes Wesen mit hoher Mädchenstimme herein und küßt dem Landlord die Füße. Mit einem brutalen Fußtritt schmeißt er selbstbewußt das fast bewegungslose Bündel in den Sand, das um Erbarmen für den Mann bat, dem Diebstahl vorgeworfen wird. Sklaverei oder Polizei heißt sein Angebot. Der vermeintliche Dieb und seine Frau fürchten beides, halten die Polizei für korrupt, den Vorwurf für ein abgekartetes Spiel. Der Mann will die Frau vor der gefürchteten, aber üblichen Vergewaltigung beim Verhör beschützen. Er hat keine Chance, sie wird von den Ordnungshütern grinsend weggeschleppt. Mit Stöcken erscheinen Verwandte und Nachbarn, um das grausame Spiel erfolgreich zu beenden, das vermeintliche Diebesgut ans Tageslicht zu befördern und dem Verdächtigen die Ehre wiederzugeben. Dem Landlord geschieht nichts, nur ein freundliches Verhör findet noch statt. Aber gemeinsam haben sie gewonnen.

Es ist dunkel geworden, der nächste Tag beginnt früh um fünf. Kailash Satyarthi bespricht noch Organisatorisches, telefoniert mit Handwerkern, und dann fährt er zurück in die Stadt. „Der wirkliche Kampf gegen Ungerechtigkeit“, sinniert er, „beginnt mit dem Begreifen, daß der Mensch ein göttliches Wesen ist. Jeder Mensch. Nur wenn wir den einzelnen stark machen, machen wir die Gesellschaft stark.“ Versteht der Generalsekretär der „Liberation Front“, der 1980 seine Arbeit als Ingenieur aufgegeben hat, um diese zu tun, sie als Sozialarbeit? „Keinesfalls, überhaupt nicht“, wehrt er ab. „Wir sind schuldig. Wir haben solche Entwicklungen zugelassen, wir müssen sie ändern. Wir haben verlernt zu teilen, jetzt müssen wir es wieder lernen. Nicht nur Besitz, auch Gefühle. Wir müssen wieder lernen mitzuleiden. Das ist keine Wohltätigkeit und keine Parteiarbeit. Das ist einfach Schuld.“ Und dann benutzt er einen Begriff, der heute in Mißkredit geraten ist: „Das ist Sozialismus.“

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