Nichts von all den Erzählungen meiner Kollegen an dieser Zeitung hatte mich wirklich darauf vorbereitet. Sie hatten mich gewarnt, Berlin habe sich verändert; das würde ich sofort merken, sobald ich ankäme. Die Ereignisse des Jahres hätten sich auf die Stadt ausgewirkt. Es sei jetzt ein ganz anderer Ort, unwiderruflich.

Ich stellte mir vor, wie Ausländerscharen durch die Straßen schlurfen und um Asyl betteln, wenn nicht schon um Deutsche Märker (da Ihre Regierung ja, ganz anders als die meine, den Verarmten Sozialhilfe gewährt). Ich erwartete, daß Neo-Nazis über die Boulevards stolzierten, große Hunde im Schlepptau, die die Passanten auf ihre Stammbäume beschnüffeln und alles anpinkeln, was aus dem Rahmen fällt. Aber was ich dann sah, hätte ich niemals erwartet: ganze Bourgeois-Legionen, die am hellen Tage, vor aller Augen, quer über den Kurfürstendamm latschten, abseits aller Ampeln.

Erste Hinweise auf diese moralische Katastrophe waren mir bereits im letzten Jahr zuteil geworden, als ich spät nachts aus dem neuesten Hong Kong-Abenteuer in mein Hotel kam. Ich erwischte ein oder zwei Teenager, die — auf dem Höhepunkt rebellischer Adoleszenz — doch tatsächlich bei rot über die Straße gingen. Aber selbst ich, die ich doch gelernt habe, geduldig am Randstein zu verharren, sobald das kleine rote Männchen erscheint, das lebendig gewordene Wirst-du-wohl-stehenbleiben — selbst ich hätte niemals geglaubt, daß es jemals soweit kommen könnte. (Diese Randstein-Geduld habe ich mir in früheren Jahren erworben, unter den bösen Blicken anderer Fußgänger, wenn ich es auch nur wagte, bei rot einen Zeh auf die Straße baumeln zu lassen.) Inmitten solch sozialer Unordnung, angesichts eines solchen Verrats an Nationalcharakter und Tradition kann es niemanden überraschen, wenn Ihre Flugzeuge entführt werden.

Als erstes wollte am ersten Tag der Berlinale jeder wissen, wie allen anderen der erste Film gefallen hatte, Emil Kusturicas „Arizona Dream“. Mir gefiel er gut, da ich noch die Zeitverschiebung im Blut hatte. Hätte ich ein bißchen Hasch dabei gehabt, hätte er mir noch besser gefallen. Die ersten zwei Drittel bestehen aus einem einzigen großen Bündel unfertiger surrealer Phantasien, hervorragend fotografiert von Vilko Filac, und Gottseidank nicht mit der Tendenz zur Moralgeschichte. Faye Dunaway, Johnny Depp, Jerry Lewis, Lill Taylor und Vincent Gallo spielen eine Ansammlung von Leuten irgendwo in einer Stadt in Arizona, winddurchweht, stauberfüllt, wie es sich gehört; ihre persönlichen Träume umfassen den größten Teil des Symbolismus und der Mythen der westlichen Zivilisation: Muttermord, die Überwindung der alten Generation durch die neue, fließende weiße Träume (von Jungfrauen, Bräuten und Leichentüchern), haufenweise Bilder von Wasser und Wiedergeburt, Fische, die fliegen und sich aus gefrorenem Wasser befreien, Leute, die fliegen und sich aus gefrorenem Leben befreien, Leute, die das Verkaufen von Cadillacs für den Höhepunkt des Lebens halten (der alte amerikanische Traum), und Leute, die den Höhepunkt des Lebens darin sehen, Robert de Niro zu sein (der neue amerikanische Traum). Kusturicas Leistung liegt darin, diese surrealistischen Ausflüge im realistischsten aller amerikanischen Genres von heute anzuwenden, dem neuen Western. Man erinnere sich an Filme von „The Last Picture Show“ über „Tender Mercies“ bis hin zu dem neuen „Gas, Food, Lodging“: überall bildet die Wüste des amerikanischen Westens den Hintergrund für einen traurigen Realismus und die Geschichten der Verlierer im amerikanischen Spiel. Kusturica hat den staubigen Westen mit glitzernden wässerigen Bildern, mit Bewußtseinsströmen getränkt und eine amerikanische Form durchbrochen.

Vielleicht war es Kusturica gar nicht klar, was er mit diesem Film erreicht hat — wie nötig sein Geschenk der Mythen und Fabeln war —, denn das letzte Drittel konzentriert sich darauf, die Handlungsfäden aufzulösen und „Botschaften“ zu übermitteln — eine Versuchung, der er in seinem letzten Film widerstanden hatte, in dem umherstreifenden, elegischen „Time of the Gypsies“. Vielleicht meinte er, er müsse seinen Film verdummen, damit er in den Vereinigten Staaten zur Aufführung kommt. Immerhin: die Musik, die in „Gypsies“ die Hälfte der Kraft und des Dramas ausmachte, wiederholt sich unter Leitung von Goran Brogovic in „Arizona“.

„Hoffa“ von Danny De Vito mangelt es an Träumen. Die Geschichte des legendären Gewerkschaftsführers Jimmy Hoffa (wie alle amerikanischen Ikonen zur Hälfte Held, zur Hälfte Schurke) besteht aus Szenen ohne leitende Sichtweise — Biographie ohne Absicht oder, noch trauriger, Absicht ohne Realisierung. Die Kameraführung von Stephen Burum macht deutlich, wie begeistert De Vito mit der Kamera spielte; sie liefert dem Publikum eine Achterbahnfahrt über die Leinwand. Aber De Vito, der bei allen visualistischen Spielchen in seinem „Krieg der Rosen“ so viel Interesse an der dunkleren Seite des amerikanischen Traums verriet, bekommt Hoffa niemals zu fassen — weder den Traum, den er dem amerikanischen Arbeiter versprach, noch die Bestechungsgelder, die er zahlte, um ihn zu erfüllen. Als Hoffa gibt sich Jack Nicholson alle Mühe, die Rolle zu finden; das Skript von dem überpräzisen David Mamet müht sich ab, eine Stimme zu finden. Wäre De Vito nur bereit gewesen, schlechter zu sein — „Hoffa“ wäre viel besser.

Betrachtet man „Arizona Dream“ und „Hoffa“ zusammen, könnte man glauben, daß Amerika heute nach dem Verlust seiner Grenzen nur noch Sehnsucht nach der Kindheit empfindet — einer Kindheit ohne die Weisheit des Alters — und eines Auges von außen bedarf, um ihm seine Roheit zurückzugeben. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning