: Lange Züge warten auf die Abfahrt
Serie: Die Zukunft der Plattenbau-Siedlungen (Dritter und letzter Teil)/ Modelle gegen und mit der Platte werden in Hohenschönhausen und Altglienicke geplant ■ Von Rolf R. Lautenschläger
Auf der Suche nach Identifikationsorten durch ein Angebot von öffentlichen Räumen und Architekturen, Wohn- und Arbeitsstätten gehen die politischen und planerischen Investoren in den Ostberliner Großsiedlungen Wege ins Unbekannte. Sicherheit im Umgang mit den Plattenghettos und ihren toten Ecken, riesigen Abstandsflächen und Schneisen bieten da bekannte Bilder und Sehnsüchte aus der Erinnerung.
In Hohenschönhausen, im Norden Berlins, wo seit 1985 in 30.000 Wohnungen in Platten- und Großtafelbauweise fast 90.000 Menschen leben, bieten die großen Baupotentiale diesen Raum für Vertrautes. Das liegt zum einen daran, daß die nördliche Großsiedlung einen unfertigen Stadtteil darstellt. Zum anderen erscheinen hier die Straßenräume noch weiter und riesiger als etwa in Marzahn. In der Wartenberger Straße beispielsweise nimmt man vom Standpunkt auf der einen Straßenseite die gegenüberliegenden Elfgeschosser nur noch als Streichholzschachteln wahr. Auch gleichen die mächtigen Zeilenbauten langen Zügen – ein Bild Adolf Behnes aus den zwanziger Jahren –, die auf einem Bahnhof kurz vor der Abfahrt stehen. Nichts deutet darauf hin, daß die Bauten hierhergehören. Die Menschen auf der Straße erinnern darum manchmal an orientierungslose Reisende, die zwischen den „Zügen“ auf dem „Bahnsteig“ herumirren.
Neben Hochhaus kleinkariertes Idyll
Doch für Hohenschönhausen gibt es Pläne: eine „City Nordost“ für zwei Milliarden Mark, ein Mischgebiet, ein Wohn- und Arbeitsort an der Malchower Straße, eine Neubausiedlung im Norden des Bezirks. Die Assoziationen bei den möglichen Ansprüchen der neuen „City Nordost“, einem Dienstleistungszentrum entlang der Landsberger Allee und einem sich nördlich daran anschließenden Mischgebiet für Wohnungen und soziale Einrichtungen aber rufen Kulissen in die Erinnerung: verglaste Bürotürme, multifunktionale Einkaufszentren, Campaniles und Piazzas, Spaßbäder, Fast-Food-Kinos und Wohnungen im Obergeschoß mit Blick auf künstliche Seen und begrünte Parkplätze. Die öffentlichen Räume werden kaltgestellt, die Öffentlichkeit dient als Staffage. Die schlechten Erfahrungen mit diesen Ghettos wie etwa bei der Hamburger City Nord werden ex negativo wiederholt.
Im Unterschied zur „Zentrenplanung“ denken andere Stadtplaner darüber nach, Hohenschönhausen in Richtung Malchow und Wartenberg mit einem Siedlungsbrei aus Ein- und Zweifamilienhäusern zu verlängern. Auch diese Bilder kennt man: Im Gegensatz zu den achtzehngeschossigen Monolithen des Wohnungsbautyps WHH-GT-85 entstände ein kleinkariertes liebliches Idyll im Schatten der Großsiedlung. Wie beängstigend solcherlei „Verschönerungen“ im Verhältnis zu bestehenden Siedlungen ausschauen können, beschrieb einmal der Architekturhistoriker Dieter Bartetzko so: Was in den Zentren der künstliche Campanile, „ist in diesen Trabanten die Gutsherrenresidenz: Erker und Gauben, Vordächelchen, Vielteiligkeit, Intimität und Introvertierung. Auf die ihnen angemessene Weise betreiben die Trabantenstädte im kleinen, was die jüngsten Bauwerke der Zentren im Großmaßstab verfolgen.“
Planung heißt Plazierung
Die Projektionen auf Hohenschönhausen sind darum so fatal, weil sie die Großsiedlung baulich nur mehr verletzen könnten. In der Gestalt trivialer, funktionaler Büro-, Industrie- und Wohnghettos, die das zerklüftete Stadtgefüge entweder endgültig zerreißen oder in der Form niedlicher Häuschen zu einem schieren Gegensatz verbauen, zeichnen sich Stadtansichten ab, die nichts mit dem Ort und seiner zu schaffenden Stadtwerdung zu tun haben. Die Unwirklichkeit der Implantate und Trabanten kritisierte schon 1961 die amerikanische Soziologin Jane Jacobs: „Planung heißt lediglich Plazierung von sorgfältig aus dem Ganzen herausgelösten städtischen Funktionen.“
Der Stadtplaner Urs Kohlbrenner warnt in einer Studie über Hohenschönhausen vor der trügerischen Sicherheit, mit der westliche Planer bei der „Platte“ zu Werke gehen wollen. Kohlbrenner führt das Beispiel der Westberliner Großsiedlung Märkisches Viertel an, die lange als Abgrund des Städtebaus stigmatisiert wurde. Das unwirtliche Märkische Viertel gilt inzwischen als „repariert“ mit Zentren, Unterzentren, Boulevards und Marktplätzen. Doch Kohlbrenner fand auch Erstaunliches: „Der Nukleus des Märkischen Viertels ist ein römisches Castrum. Es gleicht jenem Grundriß bis ins Detail, nur die Funktionen sind verschoben. Mir scheint diese Feststellung darum wichtig zu sein, weil daran klar wird, wie stark diese Westsiedlung der Tradition der westlichen Stadtgeschichte verpflichtet war. Eine Siedlung in einem sozialistischen Land hat mit dieser Tradition gebrochen und dem bewußt etwas entgegengesetzt. In Hohenschönhausen finden sich keine derartigen geschichtlichen Spuren.“
Modell „Reißverschluß“
In vier Modellversuchen testete Kohlbrenner, wie „mit der vorhandenen Struktur in der vorhandenen Struktur“ in Höhenschönhausen weitergebaut werden könnte. Im Modell „Reißverschluß“ etwa wurde die Plattensiedlung mit Neubauten „zusammengenäht“. Die Nahtstellen gleichen Übergängen, die Bruchstellen zu heilen suchen. Zugleich verzahnen sich die alten und neuen Substanzen zu einer ganz neuen städtischen Form und Figur. Die öffentlichen Freiräume werden mit den angrenzenden Landschaftsräumen in Verbindung gebracht.
Das zweite Modell eines integrierten Weiterbaus der Großsiedlungen nutzen die Wohnungsbaugesellschaft Treptow und die Berliner Senatsbauverwaltung beim Umbau der Plattensiedlung Altglienicke. Das Neubaugebiet für 15.000 Menschen zwischen dem Ortskern Altglienicke und dem Flughafen Schönefeld wird langfristig mit 5.000 bis 6.000 Wohnungen erweitert werden. Die elfgeschossigen Riesen auf der grünen Wiese sollen dann nur noch Teile einer neu strukturierten Siedlung sein. Die Überlegungen gehen dahin, Altglienicke nicht totaler „Mischnutzung“ preiszugeben, sondern es als Wohnort zu qualifizieren.
Neue Form der Partizipation
In einem ersten Bauabschnitt werden derzeit circa 600 neue Wohnungen für über 200 Millionen Mark an die Trabantensiedlung angebaut. Die Planung besteht aus drei bogenförmigen, parallel verlaufenden, viergeschossigen Zeilen sowie einem U-förmigen Bau am Kopf der Siedlung. Die Bauten bilden jeweils einen nach Süden verlaufenden Anger. Die Vorstellung einer städtebaulichen Gesamtkonzeption mit der Vorgabe, Wohnbauten am Stadtrand zu schaffen, die einen Übergang zwischen der bestehenden Plattenbausiedlung und der Landschaft herstellen, ist der Grundgedanke des Projekts der Architekten Dörken und Heise aus Berlin.
Die unfertige Plattensiedlung Altglienicke und das beabsichtigte Wohnungsbauprogramm in seiner unmittelbaren Nachbarschaft bieten zugleich die Chance, das Experiment einer neuen Form der Partizipation zu wagen. Die „Plattform Marzahn“ oder das „Ökologische Forum“ in Hellersdorf sind Institutionen einer Stadtwerdung, die die Interessen der Anwohner mit einbeziehen. Ein Entwicklungsgebiet mit einer Dimension wie in Altglienicke müßte jedoch andere Wege gehen. Architekten und Bauteams, Bewohner und Investoren müßten ein Forum bilden, das den Entwicklungsprozeß und seine Richtung bestimmt. Ein Masterplan etwa, der festlegte, wo wann was gebaut wird, ist unakzeptabel. Vielmehr käme es darauf an, in Modulen zu planen, zu bauen und zu verändern. Arbeitsplätze und soziale Infrastrukturen können dabei mit der Siedlung wachsen. Ihre Integration in den Bestand wird dadurch gesichert.
Die Enkel machen es besser
Die Zeilenbauten für Altglienicke erinnern natürlich an die schnittigen Architekturen des Massenwohnungsbaus der zwanziger und dreißiger Jahre in Berlin, Frankfurt oder Amsterdam. Sie in den Großsiedlungen zu zitieren bedeutet natürlich die Schaffung anderer Formen und Inhalte von Architektur und Städtebau. Dennoch erscheinen sie am wenigsten fremd und widersprüchlich in der Großsiedlungs-Landschaft. Sie sind ja die Väter der Plattenbauten. Die Enkel machen es besser. Und gelingt mit ihnen gute Architektur, führen sie zur Revision ihrer eigenen Schwächen.
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