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Russischer Abschied von Meiningen

„Rodina heißt Heimat“ – ein Dok-Film von Helga Reidemeister  ■ Von Christian Semler

Während überall in Rußland der Planwirtschaft auf den Leib gerückt wird, erfüllt die Westgruppe der ehemals sowjetischen Streitkräfte in Deutschland getreulich ihr „Soll“: Sie zieht ab, und dies mit überplanmäßiger Geschwindigkeit. Was bleibt, sind kontaminierte Böden, Kasernen in miserablem Zustand und Stimmen aus der deutschen Bevölkerung, die aufatmend feststellen, ihre Stadt sei endlich „russenfrei“. Die zurückgekehrten Soldaten erwartet in der Heimat das vielzitierte ungewisse Schicksal. Viel zu gering ist die Zahl der Wohnungen, die die Deutschen sich verpflichtet hatten zu bauen. Die meisten der Berufssoldaten ziehen einen Job in der Privatwirtschaft der Aussicht vor, sich im Dienst irgendeiner Schlichtungsmission im Kaukasus oder in Zentralasien von den jeweiligen Streitparteien massakrieren zu lassen. Das Ansehen, der Stolz, die Privilegien – alles dahin.

Als sich die Filmemacherin Helga Reidemeister zu Anfang des Jahres 1991, mit einer der selten erteilten Drehgenehmigungen ausgestattet, in die Garnisonsstadt Meiningen aufmachte, um den Abzug eines sowjetischen Garderegiments zu dokumentieren, war die Welt der Rotarmisten in Ostdeutschland zwar keineswegs in Ordnung: Geschichten von Soldatenmißhandlungen, Selbstmorden und Waffenschiebereien hatten die „Westgruppe“ in öffentlichen Mißkredit gebracht. Aber noch gab es, auch in Meiningen, einen zackigen Appell anläßlich des Siegs über die Hitler-Wehrmacht. Noch mahnte der Regimentskommandeur in seiner Ansprache die Rekruten, der drei Millionen sowjetischer Kommunisten zu gedenken, die im Kampf gegen Hitler ihr Leben lassen mußten.

Bei ihren Gesprächen war die Dokumentaristin genötigt, sich auf einem sehr schmalen Pfad entlangzutasten. Ihre Gesprächspartner, zunächst durchweg Offiziere, waren durch die politischen Ereignisse in ihrer Heimat tief aufgewühlt und verunsichert, gleichzeitig aber, das zeigen die Antworten, noch dem Ehrenkodex der Armee verbunden. Der 24jährige Igor, Oberleutnant aus der Ukraine, hat mit der sinnentleerten und grausamen Maschinerie der Sowjetarmee bereits innerlich gebrochen, der 27jährige Oberleutnant Slava, ein sensibler, spontan zum Sozialismus neigender Mensch philosophiert, auf einem Baumstamm sitzend, über die Notwendigkeit einer Ethik, die die Gebote der Bibel wissenschaftlich untermauert. Der stellvertretende Regimentskommandant, der 38jährige Oberstleutnant Sergej, wird, auch er verquält und zweifelnd, der Partei die Treue halten. Er ist auch der einzige, der in das konventionell-artige Lob des deutschen Gastlandes einige bittere Anmerkungen mischt.

Und die Deutschen in Meiningen selbst? Sie bleiben abwesend, im Film wie in der Realität. Nicht einmal der Bürgermeister läßt sich herbei, den Sowjetsoldaten zum Abschied ein verlogenes „Lebewohl“ nachzurufen.

Schon sind wir mit dem Urteil über Helga Reidemeisters schwieriges Unternehmen fertig, da passiert etwas Ungeheuerliches, etwas, von dem jeder, der Cinema Verité praktiziert, nur träumen kann: die ganze Ereignis- und Gesprächsachse wird durch den Putsch in Moskau gedreht. Werden die Demokraten oder die Putschisten triumphieren? In den zwei Tagen der Unsicherheit ist auf dem Gelände der Kaserne alles möglich, auch Gespräche mit den Wehrpflichtigen. Helga Reidemeister stellt die einzig wichtige Frage: Würdet Ihr auf das Volk in Moskau oder Leningrad schießen, wenn man es Euch jetzt befehlen würde? Manche der Befragten schwanken zwischen „Befehl ist Befehl“ und „Niemals!“ – aber es gibt keinen, der sich der Frage entziehen würde. Es ist der Augenblick der Wahrheit. Und das Ergebnis fällt – auch in Meiningen – zugunsten derer aus, die vor dem Moskauer „Weißen Haus“ die Demokratie verteidigten.

Der letzte und dritte Teil des Films begleitet die ehemaligen „Meininger“ zu ihren neuen Standorten zwischen Nowosibirsk und Samarkand. Jetzt geht es um die neu entdeckten nationalen Gefühle, um Rußland, um die Ukraine, um Usbekistan. Die gewohnte, die oft voll Stolz übernommene synthetische Sowjetidentität zerrinnt. Und es geht um eine Zukunft jenseits des gesicherten Kasernenareals. Von allen Offizieren des Meininger Regiments wird nur einer bei der Fahne bleiben.

Dieser letzte Teil ihres Films gerät Helga Reidemeister etwas skizzenhaft und fahrig. Es fehlten die Zeit und die Mittel, die aus der Bahn geworfenen Soldaten in ihrem neuen, so ungewohnten Milieu zu zeigen, von der Verachtung zu sprechen, die ihnen, den einst so beneideten, jetzt plötzlich entgegenschlug. Aber ihr Hauptziel hat Helga Reidemeister erreicht: Zu guter Letzt identifizieren wir uns mit all diesen abgebrochenen Lebensläufen und hoffen inständig, daß ihr neu gewonnener, ziviler Lebenselan sie nicht verlassen wird.

Helga Reidemeister: „Rodina heißt Heimat“ bis 3.3. im Steinplatzkino und in der Brotfabrik.

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