■ Deutsche Wucherungen und Wachstumsstörungen
: Die Grenzen der Zumutbarkeit

Noch vor der staatlichen Vereinigung der beiden deutschen Staaten erfand Willy Brandt eine weitere Variante aus dem Arsenal der in Deutschland seit je beliebten biologischen Metaphern für politisch-gesellschaftliche Vorgänge: Nun wachse zusammen, was zusammengehöre. Doch schon sehr bald nach dem Oktober 89 wurde sichtbar, daß das, was da spontan „zusammenwuchs“, vor allem schlechtes Altes aus dem Ideenvorrat der gemeinsamen großdeutschen Geschichte war – und ansonsten herzlich wenig. Besorgte Geister warnten von der Gefahr des „Zusammenwucherns“ – und legten damit den Gedanken an gärtnerische Eingriffe nahe.

Bleibt man in den Bildern aus dem Reich der Pflanzenwelt, dann ist die gärtnerische Gestaltung des Zusammenwachsens gefragt. Für diese ist von Bedeutung, ob denn der zweite Teil von Brandts Phrase – „was zusammengehört“ – auch wirklich zutrifft. Wenn ja, dann würde die Aufgabe des Gärtners vor allem darin bestehen, störende Randbedingungen des natürlichen Wachstums auszumerzen, also Unkraut jäten, die eigentlichen Anlagen fördern usw., wenn nicht, dann geht es – denn zusammen sind die beiden Deutschländer ja nun einmal – für unseren Gesellschaftsgärtner um die Erschaffung eines Hybriden, einer „Neuzüchtung“.

Von Anbeginn der staatlichen Vereinigung der beiden Deutschländer an hatte ein Begriff bei allen politischen Entscheidungen und ihrer Ausgestaltung große Fortune: die Zumutbarkeit. Es geht – immer und überall, vom Solidarpakt bis hin zur Aufstellung von Ski- und Fußballnationalmannschaften, von der Durchführung von Prozessen bis zur Verteilung von Asylbewerbern auf die (alten und neuen) Bundesländer, von der Nominierung für Ämter bis hin zur Gestaltung von Ausstellungen – um eben dieses: Was ist zumutbar unter dem Gesichtspunkt der Herstellung der inneren Einheit?

Vernünftig – in jeder Hinsicht, sowohl nach Kaufkraft- wie nach Produktivitätsvergleich – wäre bei der Währungsunion ein Umtauschkurs von 1:4 bis 1:6 zwischen DM und Alumark gewesen. Aber er war nicht zumutbar. Und so kamen die Bewohner der Ex-DDR nicht nur in den Genuß beachtlicher privater Sparguthaben – die sie schnell ausgaben –, sondern auch zu erheblich überbewerteten Schulden, die sich heute für die meisten ehemaligen Kombinate und Staatsfirmen als unbezahlbar erweisen. Mit den bekannten und nun viel bejammerten Folgen. Vernünftig wäre eine politische Gestaltung der staatlichen Vereinigung in stärker konföderierter Form gewesen, die der Ex-DDR vielleicht für eine gewisse Zeit der wirtschaftlichen Anpassung eine Nische hätte geben können und andererseits ihr die Chance gegeben hätte, in der eigenverantwortlichen Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur eine neue, demokratische Elite wenigstens in Ansätzen herauszubilden. Aber es war halt nicht zumutbar: der gesamt-bundesdeutsche Paß schnellstmöglich mußte es sein. Nicht zumutbar war auch die Beibehaltung der Hauptstadt Bonn, mit der Folge eines Aber- und Abermilliarden kostenden Umzugsspektakels, an dem sich vermutlich schon in Bälde nicht einmal mehr die neualten Hauptstädter des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates werden freuen können. Nicht zumutbar – für den im proletarischen Internationalismus wohl geschulten, aber im praktischen Zusammenleben unerfahrenen Ex-Bürger des Arbeiter- und Bauernstaates – auch die „gewaltige Flut“ der Ausländer: fast so viele wie Frankfurt am Main für die neuen Bundesländer unter Einschluß Ostberlins zusammengenommen! Kaum zumutbar auch der Versuch, mit Mitteln des Rechtsstaates Straftaten im SED- Staat nachzugehen.

Was aber ist das eigentlich, diese famose Zumutbarkeit? Zunächst einmal ganz offensichtlich, wie die Fülle der Entscheidungen, die mit der Zumutbarkeit gerechtfertigt wurden, das Gegenteil rationaler, zweckorientierter politischer Entscheidungsfindung. Natürlich muß die Politik den Konsens mit den Bürgern suchen, also überlegen, was man ihnen zumuten kann und will und was nicht. Wo aber die Zumutbarkeit einziges Kriterium politischer Entscheidungen wird, wo nur noch ans Gefühl appelliert wird und nicht mehr an den Verstand der Bürger, da hat die politische Vernunft nicht mehr viel zu sagen. Denn der Maßstab der Politik ist dann, so scheint's, die Volksseele – vor allem die des Bürgers der neuen Länder. Sein Stolz und seine Ehre, mit dem Untergang der DDR schon zur Genüge gequält, sollen vor weiterem Schaden bewahrt werden. Zur Wahrung seines Arbeiterstolzes wollen die bundesdeutschen Ministerpräsidenten lieber Milliarden verpulvern in die Subventionierung von veralteten Arbeitsplätzen – in West und vor allem in Ost –, anstatt zu überlegen, wie man die Menschen subventionieren könnte. Von der Nettosubventionierung der Werftenindustrie könnte man, so seriöse Schätzungen, allen dort Beschäftigten bis an ihr Lebensende Beamtengehälter zahlen.

Geht es jedoch um die (Volks-)Seele, dann ist der politische Pfaffe, nicht der demokratische Repräsentant gefragt, denn hier stehen Probleme von Gnade und Erlösung, von gut und böse, nicht von besser oder schlechter, zweckmäßiger oder weniger zweckmäßig im Mittelpunkt. So erklärt sich auch, daß der politisierende Priester oder Laienprediger das einzig wirklich erfolgreiche neue Produkt aus der Konkursmasse der DDR ist.

Hier hat auch die Debatte um die Frage ihren Ort: Wer sind die Deutschen als Deutsche? Das innere Zentrum dieser Diskussion kann in Deutschland nichts anderes als die Volksseele sein – wie auch immer man sie fassen mag, kulturalistisch oder ethnisch. Selbst noch der gutgemeinte Ratschlag, man solle die Frage des Patriotismus nicht den Rechten überlassen, sondern darauf eine demokratische Antwort geben, verkennt: Eine Gemeinsamkeit der Deutschen über die ja bereits realisierte Tatsache hinaus, daß alle in diesem Staate Stimmrecht haben, kann es auf der Ebene der Politik nicht geben. Hier sind alle Bürger Einzelne, das ist das Wesen der Demokratie. Die Frage der Gemeinschaften, also von Freundschaft, von Verbänden, Parteien oder Konfessionen, hat hier nichts zu suchen: Gemeinschaften, die das Staatswesen „erobern wollen“ oder doch zumindest als solche Teilzugänge zur Macht wollen, hebeln letztlich die Grundvoraussetzung der Demokratie, den freien und gleichen Bürger, aus. Den Unterschied der Debatte um Patriotismus in Deutschland zu den westeuropäischen Nachbarn mcht eben dies aus: Franzosen, Engländer oder Schweizer feiern in ihrem Patriotismus ihr politisches Gemeinwesen und seine Geschichte. Damit die vereinigten Deutschen Gleiches tun können, sollten sie zuerst einmal über einen längeren Zeitraum demokratische Politik betreiben. Aus der Rückschau wird man dann sehen, ob man auf diese Politik und ihre Resultate stolz sein kann oder nicht. Ulrich Hausmann

Freier Journalist, lebt in Frankfurt a.M.