Jelzin mit dem Rücken zur Wand

Beim heute in Moskau beginnenden Volksdeputierten- kongreß Rußlands wird die konservative Parlamentsmehrheit versuchen, Jelzins Verfassungsreferendum, mit dem der russische Präsident den Kampf um die Gewaltenteilung zu seinen Gunsten entscheiden wollte, zu kippen.

Ginge es nach Rußlands bekanntestem Dissidenten, Alexander Solschenizyn, wäre die Machtfrage im Lande schon längst geklärt. Alarmiert meldete sich der Schriftsteller dieser Tage aus seinem kanadischen Exil: „Die Russische Föderation, mit ihrer Größe und Vielfalt, kann nicht ohne eine starke Präsidialmacht existieren, genausostark wie die in den USA.“ Schon bei der Frage, wie sich die Machtfülle erlangen ließe, stimmten Dissident und Präsident nicht mehr überein. Solschenizyn hält Jelzins geplantes Referendum für ein riskantes Unternehmen. Wenn Leute in den Abgrund der Armut geworfen werden, gibt der russische „Fundamentalist“ zu bedenken, „ist es sicherlich nicht der passende Zeitpunkt, um ihnen vage Fragen zur Verfassung zu stellen“.

Ungeachtet seines unangenehmen nationalistischen Untertons spiegelt Solschenizyns Warnung Bedenken wider, die die unterschiedlichsten politischen Kräfte in Rußland heute hegen. Wird ein Plebiszit, das über Rußlands Zukunft als parlamentarische oder Präsidialdemokratie entscheiden soll, überhaupt genügend Wähler an die Wahlurnen locken? Wenn nicht, wäre das Unternehmen ein gigantischer Flop, der dem Ansehen und der Autorität des Präsidenten eine empfindliche Blessur beigebracht hätte. Als Jelzin auf dem letzten Volksdeputiertenkongreß diese Idee forcierte, um die Legislative zum Nachgeben zu bewegen, dachte sich der Präsident die Sache noch ziemlich einfach: Nicht die Verfassungsfrage sollte damit geklärt werden – die auch, aber nicht in erster Linie. Vielmehr wollte er daraus einen Volksentscheid machen, der ihn mit ausreichender Legitimation ausstatten würde, um das konservative höchste gesetzgebende Organ auszumanövrieren. Er baute auf seine Autorität und Popularität im Volke, in der Annahme, seit den bravourösen Tagen des Moskauer Putsches habe sein Ansehen nicht gelitten. Noch immer führt Jelzin die Beliebtheitsskala der Politiker an. Aber nur noch 30 Prozent bringen ihm absolutes Vertrauen entgegen. Die Bevölkerung ist heute mit anderen Dingen befaßt. Die ständigen Volten und Finten zwischen den Gewalten interessieren sie nicht, bringen sie eher gegen die Politikerkaste allgemein auf. In der Talsohle der wirtschaftlichen Krise mag auch die Frage, die die private Verfügung über Grund und Boden betrifft, nicht mit der Eindeutigkeit entschieden werden, mit der man sie noch vor Monaten beantwortet hätte.

Erpresserische Lobby aus „roten Direktoren“

Die gegenseitige Lähmung der politischen Gewalten geht auch auf das Konto des Präsidenten. Nach dem sechsten Deputiertenkongreß, der ihn im Frühjahr 1992 schon in die Knie zwingen wollte, ließ Jelzin es an Entschlossenheit fehlen. Er gab dem Druck der zentristischen Fraktionen aus der Industriellenlobby und der „Bürgerunion“ nach, ohne den überzeugten Reformern in seinem Kabinett den Rücken zu decken. Eine realistische Analyse, welche sozialen Kräfte tatsächlich hinter der erpresserischen Lobby aus „roten Direktoren und Apparatschiks“ stecken, hat das Regierungslager nie geliefert. Zwar hat Jelzin selbst die Schocktherapie als Muster der Wirtschaftsreformen gewählt, hielt diesen Kurs allerdings nicht durch. Er versuchte gar nicht erst, in der Bevölkerung um Verständnis für harte Maßnahmen zu werben. In den maßgeblichen Phasen der Verwässerung des Konzeptes stand der Präsident außen vor. Offenkundig wollte er damit nicht direkt in Verbindung gebracht werden. Ganz so, als traue er dem Konzept des Reformarchitekten Jegor Gaidar nicht wirklich. Vielleicht verbarg sich hinter seinem Zögern auch die verspätete Einsicht, daß die Schocktherapie, die IWF und westliche Experten Rußland angeraten haben, den politischen und mentalen Bedingungen seines Landes nicht unbedingt auf den Leib geschrieben ist. Seinem Vertrauen in westliche Unterstützung mit nachfolgendem Dollarsegen für die Wirtschaft folgte Ernüchterung, als er feststellen mußte, daß die ehemaligen Ratgeber einen Großteil ihres Interesses verloren hatten. Das machte ihn verwundbar gerade gegenüber Vorwürfe der nationalpatriotischen und chauvinistischen Rechten, die ihm den Ausverkauf des Landes vorhielten und selbst für einen russischen „Sonderweg plädierten“. Auch außenpolitisch zwang ihn das zu Zugeständnissen an das zentristische Lager.

Mit dem zunehmenden Druck der zentristischen „Bürgerunion“ um Vizepräsident Alexander Ruzkoi offenbarte sich die schwerwiegendste Fehleinschätzung des Präsidenten. Zwar war er im Gegensatz zum revoltierenden Volksdeputiertenkongreß vom Volke gewählt worden, doch unterließ er, daraus eine tragfähige soziale Basis zu formen. Seine „Neutralität“ gegenüber politischen Parteien und Bewegungen erachtete er als einen Vorteil: ein Präsident, der über den Interessengegensätzen steht. Diese Strategie ging nicht auf. Hätte er nach dem Putsch vom August 1991 das Parlament aufgelöst und eine Partei seines Zuschnitts gegründet, könnte er heute ohne die Störmanöver der Legislative den Umbau dirigieren. Wie weit sich seine Anhänger von ihm entfernt haben, zeigte der Versuch während des letzten Kongresses, das Versäumnis auszuwetzen. Er rief zur Gründung seiner Partei auf. Bis heute hat sie nicht von sich Reden gemacht. Seine ehemalige Basis hingegen, die „Bewegung Demokratisches Rußland“, begegnet ihm mit außerordentlichem Mißtrauen. Man hält ihm vor, mit allen politischen Kräften, außer den Chauvinisten, Kontakt zu suchen, nur seine Sympathisanten mit Nichtbeachtung zu strafen – ein klares Indiz, wie weit der Präsident in die Klauen der Zentristen geraten ist.

Allerdings erwies sich die Berufung von Wunschkandidaten des Zentrums ins Kabinett und den Beraterstab nicht durchweg als Fehler. Der Fall des Vizepremiers Wladimir Schumeiko bewies das Gegenteil. Nach der Wahl des neuen farblosen Premierministers Tschernomyrdin machte er sich mit Erfolg dafür stark, die Reformer des alten Kabinetts zu halten. Und Jelzin gelang es auch mit der Ernennung des liberalen Fjodorow zum Vizepremier für Wirtschaftspolitik, dem Premier ein effektives Pendant entgegenzustellen. Er widerrief eine der ersten Entscheidungen des Premiers: die Wiedereinführung von Fixpreisen für bestimmte Waren. Dennoch hat Jelzin durch seine wankelmütige Haltung eine ganze Reihe junger Reformer verprellt. Klagen sind berechtigt, der Präsident habe sich gegenüber dem Parlament zu gutgläubig verhalten. Freiwillige Zugeständnisse an die Legislative wie die Mitsprache über vier Schlüsselministerien waren naiv und haben sich nicht ausgezahlt. Die gefräßige Legislative unter ihrem machtbesessenen Vorsitzenden Chasbulatow reagierte nicht etwa kooperationsbereiter, im Gegenteil: Sie forderte immer mehr. Als langgedienter Apparatschik hätte Jelzin das ahnen können. Klaus-Helge Donath, Moskau