: Der Unfall als Normalfall
Für die Mitarbeiter der Frankfurter Hoechst AG ist spätestens seit dem tödlichen Unfall ihres Kollegen die Garantie „Sichere Arbeit, sichere Umwelt“ abgelaufen: In der Belegschaft des Chemiegiganten vom Main wächst der Ummut.
Hoechst High Chem – sichere Arbeit, saubere Umwelt.“ Der Slogan des Chemiegiganten vom Main animierte gestern nicht nur die im Hoechst-Pressezentrum versammelten Journalisten zu Hohngelächter: „Saubere Umwelt“ – davon wissen die SchwanheimerInnen seit dem Störfall vom 22. Februar ein garstig Lied zu singen. „Sichere Arbeit“ – diese Garantie ist nicht nur für die Familien des einen toten und des einen schwerverletzten Mitarbeiters der Hoechst AG, die gestern Opfer einer Explosion im Stammwerk des Konzerns wurden, längst abgelaufen. Unter den Arbeitnehmern wächst die Unruhe. Und ein Angestellter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, dem der Unmut der Beschäftigten über die Störfallserie die Gelassenheit raubte, hatte gestern die Chuzpe, das Wort „Sabotage“ in den Mund zu nehmen. „Unheimlich“ sei gar kein Ausdruck mehr für diese „Verkettung offenbar unglücklicher Umstände“, gab sich Norbert Dörhold vom Pressereferat des Konzernvorstandes empört.
Schwer zu verstehen waren auf der Pressekonferenz der Konzernspitze dann auch die Ausführungen des zuständigen Produktionsleiters zum Hergang des Unglücks. Soviel scheint festzustehen: Gegen 7.40 Uhr ereignete sich im Bau E 513 eine Explosion, bei der ein 59jähriger Schichtleiter getötet und ein 51jähriger Vorarbeiter schwer verletzt wurde. In der Anlage wird seit 23 Jahren aus Polyvinylalkohol ein Bindemittel für Klebstoffe hergestellt – Markenname „Mowiol“. Nach der Explosion entstand in dem vierstöckigen Gebäude ein Großbrand, bei dem eine Schadstoffwolke aus dem beschädigten Fabrikteil entwich. Nach Angaben der Hoechst AG habe diese Wolke „vornehmlich aus Methanol und Ruß“ bestanden. Da es sich nur um eine „geringe Konzentration“ von Methanol gehandelt habe, so Produktionsleiter Gerhard Friedrich, sei die Bevölkerung nicht gefährdet gewesen. Auch eine zweite Schadstoffwolke, die aufgrund kollabierender Sicherheitssysteme bei der Überhitzung von Kesseln beim automatischen Herunterfahren der gesamten Anlage entstanden war, habe sich, „ohne Schaden anzurichten“, verflüchtigt.
Der Staatssekretär im hessischen Sozialministerium, Alexander Müller (Die Grünen), und Frankfurts Umweltdezernent Tom Koenigs (Die Grünen), die beide gestern vor Ort waren, bestätigten die Angaben der Hoechst AG. Sofort eingeleitete Messungen hätten keine positiven Ergebnisse gezeitigt. Die erste Schadstoffwolke wurde von einem Polizeihubschrauber begleitet, aus dem heraus fortlaufend Messungen vorgenommen worden seien. Wie die beiden Politiker weiter erklärten, hätten Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt (LKA) die Ermittlungen aufgenommen. „Entwarnung“ für Frankfurt, wie von der Hoechst AG angeregt, wollte Koenigs gegen Mittag noch nicht verkünden; immerhin, so Experten aus dem Sozialministerium, habe die zweite Wolke Venylazetat enthalten – eine III-b-Substanz (krebserzeugende Stoffe).
Auf der anschließenden Pressekonferenz legte Produktionsleiter Friedrich offen, daß es an der Anlage bereits gegen 3.30 Uhr zu einem „mechanischen Störfall“ gekommen sei. Daraufhin, so Friedrich, sei die gesamte Anlage abgeschaltet worden. Mit den Vorbereitungsarbeiten für die Reparatur sei dann die Tagschicht befaßt gewesen – eben die beiden „erfahrenen Mitarbeiter“ (Friedrich). Für Friedrich steht fest, daß „irgendwo aus der geschlossenen Anlage Methanol ausgetreten“ sein müsse. Dazu sei dann ein „Zündfunke“ gekommen, der zu dieser verheerenden Explosion geführt habe.
Als Journalisten die verrottet aussehenden Anlagen vor der weiträumigen Absperrung in Augenschein nehmen und mit Arbeitern sprechen wollten, schnauzte einer der leitenden Ingenieure den Sicherheitsdienst an: „Sorgen Sie umgehend dafür, daß die hier nicht rumlaufen können.“ Danach war Schluß mit den forschen Blicken ins Innenleben des Weltkonzerns, der Sicherheitsdienst hatte alle Zugänge zu den Produktionsgebäuden und alle Einfallstraßen in die Frabrikgebäudeschluchten abgesperrt – „zu Ihrer eigenen Sicherheit“.
Klaus-Peter Klingelschmitt,
Frankfurt/Main
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen