: Lust am Fahren als einzige Leidenschaft?
■ Vergiftete Umwelt, verschandelte Umgebung: Was den Berlinern die Freude am Automobil vergällt/ Auch Autobesitzer wären bereit, auf ihr liebstes Kind zu verzichten
Eigentlich ist Ulrich Brandstetter-Madiedo, 28 Jahre alt und Medizinstudent in Berlin, ein ganz gewöhnlicher, unspektakulärer, bundesdeutscher Durchschnittsmann, der eines gemein hat mit allen anderen unspektakulären Durchschnittsmännern des Landes: die Liebe zum eigenen Automobil. Gern, sagt Ulrich Brandstetter- Madiedo, sitzt er hinter dem Lenkrad seines Toyota Tercel, besonders schätzt er das hurtige Fahren auf hindernisfreier Strecke. Sogar der Reinigung seines Kleingefährts vermag er Reiz abzugewinnen: „Ich muß zugeben, mir macht das Autowaschen Spaß.“
Doch ein richtiger Freak, der ohne sein Auto nicht leben mag, ist Ulrich nicht. Er und seine Frau Consuelo – auch sie 28 und Studentin der Psychologie – gehören zu jenen Berlinern, die den Fragebogen der „AG Wohnen ohne Auto“ ausgefüllt haben. Sie wären dabei, wenn in ihrem Wohnort Lichterfelde eine Siedlung realisiert würde, in der Bäume und Sträucher zwischen den Häusern wachsen, in der es Bolzplätze zuhauf gibt für die Kinder und nur ganz wenige Autos für den Notfall – wenn etwa die Oma vom Bahnhof abgeholt werden soll oder jemand schnell zum Arzt muß. Voraussetzung für das autofreie Wohnen sei natürlich eine bessere Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel, sagt Ulrich: derzeit braucht er mit Bus und Bahn beinahe eine Stunde für den Weg von seiner Wohnung zur Kinderklinik in Charlottenburg, in der er arbeitet. Mit dem Auto wäre er in einer guten Viertelstunde da.
Trotzdem lassen die Brandstetters den Wagen schon jetzt häufig in der Garage stehen. Ulrich, weil er das Auto „für den Umweltkiller Nummer eins“ hält; Consuelo, weil sie findet, „daß lärmende und stinkende Autos die Lebensqualität der Leute mindern“. Und die Optik beeinträchtigen: im Sommer hat sie einige Fotos gemacht von der Umgebung; die Bäume, die ruhige Straße. Richtig harmonisch habe das ausgesehen, „wie ein Park“. Bis auf die Autos: „Die Kisten“, sagt Consuelo, „vergiften die Umwelt und verschandeln die Umgebung.“
Daran ist Rainer Schöbel gewöhnt. Der 28jährige, als Funkmechaniker bei der BVG beschäftigt, lebt im Prenzlauer Berg, wo sich Blechkiste an Blechkiste reiht. Schöbel blickt auf eine eigene Vergangenheit als Autobesitzer zurück, eine, wie er sagt „Episode, in der die allgemeine Hysterie mich mit fortgerissen hat“. Die allgemeine Hysterie, das war die Zeit nach der Währungsunion, als viele DDR-Bürger auf der Suche nach der neuen Freiheit im Fahrersitz eines Westwagens landeten. Schöbel erstand damals für rund 500 Mark einen angejahrten Golf, der sich zwar schnell als „Schrottmühle“ entpuppte, seinem Besitzer aber immerhin zu der Erkenntnis verhalf, „daß du in Berlin mit Bus oder Fahrrad besser vorankommst“. Nur für längere Strecken und Transporte sei ein Wagen sinnvoll. Als Schöbel im letzten Urlaub mit einem Faltboot nach Schweden reiste, tat er das in einem geliehenen Automobil.
Rainer Schöbel gehört zu jenen Prenzlbergern, die dafür streiten, daß ein Teil des bisherigen Gewerbegebiets Eldenaer Straße als autofreie Zone gebaut wird. Der Start der Initiative verlief verheißungsvoll, ob sie sich allerdings zu einer richtigen „Massenbewegung“ (Schöbel) entwickeln wird, ist ungewiß. Nahezu libidinös sei schließlich die Beziehung, die mancher zu seinem Gefährt unterhalte. Viele Arbeitskollegen Schöbels haben ihre Autos mit Wimpeln und Aufklebern verziert und lesen in der Pause Auto-Bild oder auto motor und sport. Die „Lust am Fahren“, vermutet Schöbel, sei bei vielen vermutlich die einzige Leidenschaft, zu der sie fähig sind.
Wie man dem Drang zu Steuer und Gaspedal effektvoll entgegenwirken könnte, weiß er nicht. Ulrich Brandstetter-Madiedo dagegen empfiehlt den Eingriff des Staates. Wer mit dem Auto in die Innenstadt wolle, müsse geschröpft werden wie zum Beispiel die Bürger in New York. Eine Stunde parken im Wallstreet-district koste 15 Dollar, ein Dauerparkplatz in der Tiefgarage mit 800 Dollar monatlich soviel wie eine Wohnung: „Wenn es an ihr Portemonnaie geht, werden die Leute die Lust am Auto schon verlieren.“ Holger Gertz
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