: Sprache, Literatur, Nation
■ In Belorußland sprechen nur die Intellektuellen und Bauern weißrussisch
In Weißrußland ist die Sprache ein ungewöhnlich weites Feld. Die Mehrheit der Bevölkerung spricht Russisch, nebenbei sprechen und verstehen viele auch die eine oder andere Version des Weißrussischen. Da beide Sprachen miteinander verwandt sind, ist das kein größeres Problem. Auch mit Polnisch und Ukrainisch kommt man in Belorußland gut durch.
Seit kurzem fördert die Regierung die weißrussische Sprache in Erziehung, Handel und Berufen mit dem Ziel, Weißrussisch zur Umgangssprache zu machen. Diese Bemühungen tragen nur sehr langsam Früchte. Man schätzt, daß drei bis vier Prozent der städtischen Bevölkerung die weißrussische Sprache beherrschen, nur auf dem Lande ist der Prozentsatz wesentlich höher.
Ihar Germiantschuk, Chefredakteur der weißrussischen, unabhängigen Zeitung Svaboda, geht davon aus, daß etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung die Sprache im täglichen Umgang spricht, allerdings in heftig mit russischen Brocken durchsetzter Form. Unter den Zaren, sagt er, war selbst das Wort „weißrussisch“ schon verboten. Zu Stalins Zeiten wurden besonders weißrussische Akademiker in den Malstrom der Säuberungen gezogen, und 1933 nahm man offiziell Änderungen in der Sprache vor, um sie dem Russischen stärker anzunähern.
„Unsere Sprache“, so Germantschiuk, „hinkt deshalb auch mächtig hinter anderen europäischen Sprachen hinterher, was die moderne Entwicklung betrifft. Wir haben eine reiche literarische Tradition, aber sobald es um Naturwissenschaften und Technik geht, müssen wir aufs Russische zurückgreifen. In Verwaltung, Industrie und Handel zögert man, Weißrussisch zu benutzen, und es gibt wenig Unterstützung für die weißrussische Presse.“ Man ist geneigt zu glauben, daß die Unterstützung des Belorussischen durch die Regierung in erster Linie ein Versuch ist, Opposition und Volksfront für sich zu gewinnen.
Auch das staatliche Fernsehen bietet einen veritablen Sprachcocktail: ein Interviewer stellt seine Frage oft in Weißrussisch, die Antwort bekommt er jedoch meist auf russisch oder in einer Mischung beider Sprachen.
Der gegenwärtige Versuch, die Sprache wiederzubeleben, ist nicht der erste seiner Art. In den zwanziger Jahren wurde der Gebrauch der Sprache durch den Staat energisch unterstützt; das führte zu einer Welle literarischer Aktivitäten, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind. Ihre Entwicklung wurde unter Stalin brutal unterdrückt, konnte jedoch nie völlig erstickt werden. Heute hoffen weißrussische Schriftsteller, daß ihre Sprache wieder „purer“ wird. Russische Lehnworte werden mehr und mehr vermieden, und archaische belorussische Vokabeln sind der letzte Schrei. „Im Vergleich zu den sechziger und siebziger Jahren ist die Sprache heute lexikalisch unabhängiger“, stellt der Schriftsteller Alex Astaschonok fest.
Einer der Gründe für den Umschwung ist die Tatsache, daß die Schriftsteller damals zwar weißrussisch schrieben, alles andere geschah jedoch in Russisch. In der Literatur dominierten ländliche Themen, denn das Land war der Ort, wo man in dieser Sprache lebte: wer weißrussisch schrieb, kam meist vom Land. Heute sind fast alle jungen Schriftsteller an der Sprache wieder interessiert, persönlich und politisch. Sie sprechen weißrussisch bei sich zu Hause, auch in der Stadt, und haben meist seit den achtziger Jahren schon unter Anführung der Volksfront um die Wiederbelebung des Weißrussischen gekämpft.
Die bekannteste Gruppierung war damals „Tuteishija“ (etwa „die Einheimischen“), eine recht exklusive Gruppe von etwa 25 jungen Schriftstellern. Sie waren begabt, engagierten sich für die nationale Unabhängigkeit und schockierten gerne durch ihre Respektlosigkeit und politische Unerschrockenheit. Tuteishija publizierte zwei informelle Sammlungen zeitgenössischer Literatur, „Literatura 1“ und „Literatura 2“. Später teilte sich die Gruppe. Adam Globus repräsentiert den Teil, der vor allem großes Interesse an literarischen Experimenten hatte, während die Schriftsteller um Anatol Sys mehr an einer deutlichen politischen Botschaft interessiert waren (siehe Texte auf diesen Seiten). Die berühmteste Aktion, an der die Gruppe beteiligt war, war die Organisation einer Demonstration zu Ehren der Vorväter am 30.Oktober 1988. Sie endete mit gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und schlagstockbewehrter Miliz samt Wasserwerfern und Tränengas. „Das hat mir gereicht, ich wollte nie wieder etwas mit Politik zu tun haben“, sagt Adam Globus. „Dafür wollte ich nicht verantwortlich sein. Es war nicht die Idee, die falsch war, sondern die Ausführung. Ich dachte, daß wir uns irgendwie einigen könnten, daß sie nicht einfach Leute verprügeln und mit Tränengas werfen würden. Aber genau das ist passiert. Wir (die Tuteishija) wurden alle zum Verhör abgeführt und bedroht. Danach ging die politische Seite dieser Auseinandersetzung in andere Hände über, zum Beispiel an die neu gegründete Weißrussische Volksfront. Mir ist es heute unangenehm, daran beteiligt gewesen zu sein. Die Aufgabe eines Schriftstellers ist es zu schreiben. Die Veränderungen wären sowieso gekommen. Damals dachten wir natürlich, daß das, was wir taten, von größter Wichtigkeit sei. Aber in Wirklichkeit war es das nicht.“
Globus' politische Haltung drückt sich positiver in seiner Entscheidung aus, sich auf die grammatischen Strukturen der Sprache vor den Zwangsänderungen von 1933 zurückzubesinnen. „Wenn jetzt auch der Staat diese Strukturen wieder einführt, will ich die lateinische Schrift benutzen. Ich möchte nicht in derselben Grammatik schreiben wie diese Leute. Ich will nicht in diesem Mischmasch von sowjetisch-belorussischer Literatur landen. Die alte Grammatik, wie sie von unseren Klassikern Janko Kupala, Kolos und Baluschewitsch benutzt wurde, das ist richtiges Belorussisch. Die Wörter kriegen dadurch eine andere Plastizität, der Stil ist anders.“
Für den Mann auf der Straße sind die feinen linguistischen Unterschiede eher bedeutungslos. Das Russische hat sich eingebürgert und wird nicht so leicht auszurotten sein. Weißrussisch bleibt die Sprache des ländlichen Raumes und die der kleinen intellektuellen Elite des Landes. „Das ist wie eine Eintrittskarte“, sagt Leonid Jekel vom Journalistenverband. „Wenn ich die Sprache spreche, habe ich allen anderen gleich etwas voraus.“
Die meisten Menschen der weißrussischen Städte haben wenig Sinn für „ihre Nation“ und keine Lust, wie ihre weniger gebildeten Verwandten auf dem Lande zu sprechen oder die jungen Intellektuellen nachzuäffen, die ohnehin fast alle am liebsten nach Wilna auswandern würden. Die Situation ist hart für Veteranen wie den Schriftsteller Wassil Bjkow; seit Jahren hat er für ein größeres Sprachbewußtsein in seinem Land gekämpft. Für die heutige Stagnation macht er eine starre, unflexible politische Führung und das festgeknüpfte Netz ökonomischer und politischer Abhängigkeiten von Rußland verantwortlich. „Wir wollen ein deutlicheres Bewußtsein von uns selbst als Nation, aber das können wir nicht haben, solange Weißrußland nicht ein vollkommen souveräner Staat und Gleicher unter Gleichen in der europäischen Staatenfamilie ist. Das ist voneinander abhängig. Souveränität ist unmöglich ohne eine klare nationale Identität, und diese Identität ist abhängig von unserer Souveränität. Wir sitzen also in der Falle.“ Irena Maryniak
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