: Freiheit und Armut
Die Last eingefressener Verhaltensweisen und das Elend der Massen bestimmen die Chancen des demokratischen Verfassungsprojekts in Rußland ■ Von Christian Semler
Die „friedlichen“, die „sanften“ Revolutionen des Jahres 1989 schienen ein Prinzip umzustoßen, das nicht nur den Realsozialisten, sondern auch der Linken als unbezweifelbar galt: Verfassungsfragen sind Machtfragen! Dieser Satz, ursprünglich Titel eines staatstheoretischen Werks von Ferdinand Lassalle, schloß nach marxistischem Verständnis ein, daß der Kern der Machtfrage die Klassenfrage sei – Neue Verfassungen besiegelten neue, ökonomisch determinierte Klassenverhältnisse. 1989 sah es fast so aus, als könnte man, um mit Ulli Preuß zu sprechen, dieses Prinzip umkehren: Machtfragen sind Verfassungsfragen. Nicht der Umsturz der Eigentumsverhältnisse, sondern die „Verfaßtheit“ einer künftigen Bürgergesellschaft beherrschte das Denken der Revolutionäre. Einen historischen Augenblick lang schien es, als strebten die Gesellschaften des Ostens Verfassungen an, die offen waren gegenüber den Gefährdungen, die nicht in erster Linie vom Staat ausgingen, sondern von der Gesellschaft selbst: von den losgelassenen Kräften technischer Menschen- und Naturbeherrschung. Demokratische Verfassungsrechtler in Deutschland sprachen von einem neuen, von einem bescheidenen, auf Lernprozesse angelegten, einem „moralisch reflexiven“ Konstitutionalismus.
Angesichts des Verlaufs wie des Ergebnisses der Verfassungsdiskussionen seit 1989 trennen uns Lichtjahre vom Enthusiasmus der Revolutionstage. In Polen geriet die Debatte Präsidial- versus parlamentarische Demokratie unter die Räder des Machtkampfs Walesa gegen Mazowiecki. Die Menschen verfolgen angeekelt das Schauspiel, und der schließlich gefundene, an sich vernünftige Kompromiß kann den Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen nicht wettmachen. In der Tschechoslowakei endete der Disput um die künftige Föderation beider Republiken mit der Auflösung des gemeinsamen Staates, ohne daß die Bürger je die Möglichkeit gehabt hätten, sich zu äußern. Am gründlichsten aber scheinen die gegenwärtigen Auseinandersetzungen in der Russischen Föderation jede Hoffnung zu dementieren, daß auf die Höllenfahrt der Realsozialisten eine constitutio libertatis, eine verfassungsmäßige Begründung der Freiheit, folgen könne.
Zweifellos ist der gemeinsame Nenner für diese diversen Trauer- bzw. Satyrspiele, daß der „Schock der Freiheit“ (I.Eörsi) die Bürger jeder Lebenssicherheit beraubt hat und daß sie sich eilig unter den Schutz alter, identitätsstiftender Ideologien flüchten. Sie lechzen nach Sicherheit. Schlechte Zeiten für Verfassungsväter und -mütter. Hannah Arendt hat in ihrer vergleichenden Analyse der amerikanischen und Französischen Revolution diesen Prozeß als die Abdankung der Freiheit vor dem Diktat der Notwendigkeit beschrieben. Zugespitzt formuliert sie in „On Revolution“, „Armut und Freiheit sind unvereinbar“. Die Notwendigkeit, die drängende Not des Volkes, läßt den Terror los und vernichtet die politische Revolution. Nicht die Konterrevolution, sondern Armut und Notwendigkeit verschwören sich gegen die Demokraten. „Wir werden untergehen, weil wir in der Geschichte der Menschheit den Augenblick für die Gründung der Freiheit verpaßten!“ läßt sie Maximilian Robespierre (in dessen letzter Rede vor der Nationalversammlung) ausrufen. „Verpaßt“ haben die französischen Revolutionäre Hannah Arendt zufolge die Freiheitschance, weil sie, vom Massenelend überwältigt, die soziale Frage mit politischen Mitteln lösen wollten, statt die Institutionen der Republik aufzubauen. Aber hatten sie denn eine andere Chance und haben – angesichts des laufenden Verfassungskonflikts – heute die Demokraten in Rußland eine andere Chance?
Für Hannah Arendt lag die Ursache des Erfolgs der amerikanischen Verfassungsväter (neben der Abwesenheit von krasser Armut) darin begründet, daß die Kolonisten schon auf einer langen Tradition der Selbstverwaltung, der religiösen Toleranz und des rule of law zurückblicken konnten. Tatsache ist, daß sich die bisherige russische Geschichte gerade durch das Fehlen dieser Institutionen, dieser societa politica, wie Gramsci sie nannte, auszeichnet – Konsequenz aus der Abwesenheit einer vom Staat relativ unabhängigen societa civile. Selbstverwaltungsorgane, die Semstwos gab es in Rußland erst seit Mitte des letzten Jahrhunderts, und sie waren nichts als Interessenvertretungen des grundbesitzenden Adels. Die Einrichtungen der Bauerngemeinde, von den Slawophilen als Alternative zum „westlichen“ Entwicklungsweg verklärt, verhinderten gerade eine artikulierte demokratische Bewegung auf dem Land. Die Bourgeoisie war ebenso schwach wie das Proletariat und dazu noch ohne Selbstvertrauen. Die einzige Verfassung, die dem Zarentum je abgetrotzt wurde (und dies nicht vom Bürgertum, sondern vom Druck der Arbeiter- Sowjets), war das „Grundgesetz“ von 1905, ein Scheinkonstitutionalismus, der von Nikolaus II. liquidiert wurde, ehe er zur Schule der bürgerlichen wie der sozialistischen Parteien werden konnte. Unter diesen Voraussetzungen war es nahezu unvermeidlich, daß die revolutionäre Intelligenz des Landes ihren Kampf gegen die Selbstherrschaft nicht mit der Vorstellung eines künftigen sozialistischen Verfasungsstaates verband.
Nach der Oktoberrevolution vernichtete der Bürgerkrieg die zarten Ansätze unabhängiger politisch-gesellschaftlicher Organisation. Verhängnisvoll wurde, daß die Bolschewiki aus der Not eine Tugend machten und politischen Pluralismus, Gewaltenteilung und Rechtsstaat, kurz: demokratisches Verfassungsdenken, im Namen eines scheinbar höheren gesellschaftlichen Prinzips verneinten: des der Fusion staatlicher Gewalt in den Sowjets. Viele Rechtstheoretiker der nachrevolutionären Periode wie Paschukanis verwechselten die Funktion des Rechtssystems im Kapitalismus mit der Bedeutung von Rechts- und Verfassungsinstitutionen für den Prozeß der Zivilisation. Später wurde dieser „Rechtsnihilismus“ bekämpft, um desto gründlicher in der Praxis der Einparteienherrschaft und des demokratisch-zentralistischen Staates durchgesetzt zu werden. Die Sowjets verloren schon in den frühen Zwanzigern jeden demokratischen Charakter. Die verschiedenen sowjetischen Verfassungen aber, die stets vielfältige, unmittelbare Formen der Mitwirkung der Werktätigen an der Staatsmacht postulierten, gaben den ArbeiterInnen in Wirklichkeit kein einziges einklagbares Recht gegenüber dem allmächtigen Partei-Staat. Der Begriff des Rechts wurde auf seinen Zwangscharakter reduziert, Gesetze, Verordnungen und Erlasse bildeten ein undurchdringliches Wirrwarr. „Mit Recht“ wurden sie ebensowenig geachtet wie die weisungsgebundenen Gerichte. Von der Partei wie von der Bevölkerung wurden Recht und Macht zwar aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen, aber miteinander identifiziert.
Es ist diese Erbschaft, die heute die demokratische Intelligenzija Rußlands ebenso prägt wie ihre Widersacher, die auf der politischen Elite ebenso lastet wie auf den „breiten Volksmassen“. In seinem Bemühen, die Grundlagen des Sowjetstaates zu verrechtlichen, hatte Gorbatschow umfängliche Befugnisse von der zentralen Partei- und Staatsexekutive auf den Obersten Sowjet bzw. den Volksdeputiertenkongreß übertragen und auch erreicht, daß die einzelnen Unionsrepubliken dem Vorbild der Zentrale folgten. Ironischerweise war es Gorbatschows Verfassungsreform, die Jelzin 1991 in die Lage versetzte, als Vorsitzender des russischen Obersten Sowjet eine effektive Gegenmacht zum sowjetischen Präsidenten aufzubauen. Nach der Niederschlagung des Augustputschs 1991 hätten Jelzin und die russischen Demokraten jede demokratische Legitimation besessen, den noch unter kommunistischer Kuratel zustande gekommenen Volkskongreß aufzulösen, allgemeine Wahlen auszuschreiben und dem neuen Parlament die Aufgaben einer Verfassunggebenden Versammlung zu übertragen. Dies nicht getan zu haben war keineswegs schiere Dummheit, sondern entsprach der Vorstellung, auch hartgesottenen Doktrinären (soweit sie nicht in den Putsch verwickelt waren) eine Chance zu geben und nach einvernehmlichen Lösungen, auch nach einem Verfassungskonsens zu suchen. Das war eigentlich der Geist der „samtenen Revolution“. So kam es, daß die russische Verfassung mehr und mehr einem „monstrum quasi simile“ (Samuel Pufendorf über die alte deutsche Reichsverfassung) wurde, Neben Artikeln, die die Allmacht und die Allzuständigket des Parlamentes ganz im Geist der Sowjet-Theorie (wenngleich nicht der Praxis) festschrieben, stand das Prinzip der Gewaltenteilung. Die Menschen und Bürgerrechte wurden inkorporiert, aber in einer Fassung, die einen umfangreichen Katalog sozialer Grundrechte mitschleppte, die aber jetzt von den Berechtigten juristisch geltend gemacht werden konnten. Es gab Bemühungen um demokratische Dezentralisation, schließlich wurde im März letzten Jahres ein Föderationsvertrag unterzeichnet, dem bis auf die tatarische und die tschetschenische Republik alle Republiken und Gebietskörperschaften beitraten. Aber weder wurden bindend die Kompetenzen der Föderation gegenüber ihren Gliedern festgelegt noch eine Einigung über die Verteilung des Steueraufkommens erzielt. Ein Oberstes Verfassungsgericht wurde gebildet. Aber da die bestehende Verfassung in sich vollständig widersprüchlich war, hing die Verfassungsinterpretation des Gerichts mehr von der Rechtskultur und den demokratischen Überzeugungen der Richter ab als vom geltenden Verfassungsrecht. Seit 1992 konstituierte sich der Volksdeputiertenkongreß als Verfassunggebende Versammlung, als Constituante. Als aber die Regierung wie auch der Verfassungsausschuß des Parlaments unter Leitung des Sozialdemokraten Rumjanzew ihre Vorschläge präsentierten, war der Machtkampf, dessen Zeugen wir heute sind, voll entbrannt
Bei der Auseinandersetzung zwischen Jelzin und dem Präsidenten des Obersten Sowjet, Chasbulatow, handelt es sich nicht darum, daß das Parlament im Namen eines zukünftigen Prinzips, des der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Exekutive, sich gegen die Willkür präsidentieller Vollmachten zur Wehr setzt. Wie ernst es dem Lager, das Chasbulatow vertritt, mit der Einhaltung elementarer Verfassungsgrundsätze ist, beweisen die von ihm veranlaßten Verfassungszusätze, die die Absetzung des Präsidenten ohne viel Federlesens ermöglichen. Den Text der Verfassung schwenkend, hat der zu Chasbulatow übergelaufene Chef des Verfassungsgerichts über einen Erlaß Jelzins judiziert, dessen Text er nicht einmal kannte. Der Vorgang ist deshalb so dramatisch, weil das Verfassungsgericht durch seine Entscheidungen 1991/ 1992 Autorität gewonnen und rechtsstaatliche Fundamente gelegt hatte, die durch seinen Vorsitzenden jetzt wieder gesprengt worden sind. Bei dem Zangenangriff Chasbulatows und des Verfassungsrichters Sorkin auf das Amt des Präsidenten geht es nicht um den Prinzipienstreit, mit welchem Verfassungssystem Rußland besser führe: dem Präsidialsystem nach amerikanischem Vorbild oder dem parlamentarischen nach dem Vorbild Englands oder Deutschlands. Beiden Systemen ist die Gewaltenteilung, sind die checks and balances eingeschrieben. In Frage steht vielmehr, ob überhaupt regiert werden kann. Denn trotz seines zu einer bürokratischen Riesenmaschine aufgeblähten, einer zweiten Regierung gleichenden Apparats und der Fülle der exekutiven Aufgaben, die sich das Präsidium des Obersten Sowjet angemaßt hat, sind die dort versammelten Funktionäre zur Durchsetzung einer alternativen Politik für den Übergang zur Marktwirtschaft nicht in der Lage. Hinter Chasbulatow steht eine Koalition von besitzstandswahrenden Kräften, die auf nationaler Ebene wie in der Provinz mit dem Demokratisierungsprozeß Schluß machen wollen. Der Apparat des Obersten Sowjet ist praktisch nur gut, die Reform zu blockieren. Scheinbar plausibel wird von Chasbulatow und seinen Freunden argumentiert, man wolle den Übergang zur Marktwirtschaft, aber auf langsame, sanfte, sozialverträgliche Weise, nach skandinavischem Vorbild. Tatsächlich aber will man die zentrale Kontrolle der Preise, das zentrale Management der staatlichen Industrie, die Vorherrschaft der Zentrale in der Föderation, kurz die Wiederaufrichtung des bürokratischen Zentralstaats unter neuem Firmennamen. Dieses politische Programm der Restauration ist nicht nur ökonomisch perspektivlos, es ist einfach unverträglich mit dem Verfassungsauftrag, den sich der Volksdeputiertenkongreß selbst gegeben hat.
Aber es profitiert, um zu Hannah Arendt zurückzukehren, vom Druck der Not und des Massenelends. Ob es Jelzin gelingen wird, für seinen Versuch des Blockadedurchbruchs auch nur die Hälfte der WählerInnen zu mobilisieren, ist vollkommen ungewiß. Jede beliebige Straßenumfrage zu den Protagonisten des Verfassungsstreits fördert Massenstimmungen von Zynismus und ohnmächtiger Wut zutage. Diejenigen aber, die Jelzin anhängen, scheinen in ihm mehr den Retter der Nation zu verehren als den Mann, der sich die Sache der Demokratie zu eigen gemacht hat. Seitens russischer Analytiker ist oft beklagt worden, daß die Schichten, die potentiell den Kampf um eine demokratische Verfassung tragen könnten, noch nicht das Licht der Welt erblickt haben, wie die freien Bauern, noch unfähig zur politischen Artikulation sind, wie die neuen Unternehmer, oder vom traditionellen Laster der Politikunfähigkeit heimgesucht werden, wie die fortschrittliche großstädtische Intelligenzija. Ironisch verweist man auf die Tatsache, daß in den Nationalversammlungen der Französischen Revolution drei Viertel der Abgeordneten wenigstens Anwälte oder Geschäftsleute waren. Bei dieser Rechnung figuriert stets eine Unbekannte: die Arbeiterschaft. Sie ist für alle Beteiligten im Streit die große Manövriermasse. Am Tag des Referendums, so es denn stattfindet, könnte sich für die Demokraten rächen, daß sie sich die Akteure des Übergangs zu Markt und Privateigentum nur als „dynamische“, eigenverantwortliche Individuen vorstellen konnten. Wäre es nicht möglich, daß das demokratische Engagement des russischen Proletariats, des machtlosen nominellen Heerschers während der 70 Jahre des Realsozialismus, davon abhängt, ob die Verfassung ihm die Möglichkeit demokratischer Mitwirkungs- und Selbstverwaltungsrechte in „seinem“ Betrieb einräumen wird?
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