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■ Die russische Bevölkerung verachtet den VolkskongreßZwei Schritte vor und zwei zurück

„Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“. Sepp Herberger prägte diese bestechende Formel. Rußlands Volksdeputierte greifen sie auf. Im Derby mit dem Präsidenten gerade eine Niederlage eingesteckt, schreien sie am nächsten Tag schon wieder nach Revanche. Gelernt haben sie nichts, auch ihr Libero, Leithammel Chasbulatow, nicht. Angstpsychose oder exemplarischer Fall von Autismus – müßte ein Arzt diagnostizieren. Der Mediziner ist schon da: Das Volk, das zu Tausenden auf die Straße ging. Noch ist es kein tadelloser Demokrat. Aber es ist aufgewacht. Das besiegelt das Schicksal der alten Schmarotzer, die ihre letzte Bataille schlagen.

Zum ersten Mal seit dem Putsch im August zogen die Menschen wieder in Massen auf die Straße. Man glaubte schon, die Russen seien in ihre sprichwörtliche Lethargie zurückverfallen. In ihrer Tradition sind die Russen unendlich weit von ihrer Macht entfernt – nicht nur im übertragenen Sinne. „Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit.“ Noch lange wird dies tiefsitzende Gefühl, das Mißtrauen gegenüber jeglicher Staatlichkeit, zum kollektiven Bewußtsein gehören. In ihrer Psychologie unterscheiden sich die Menschen vielleicht gar nicht so sehr von den Deputierten. Für die sind Gerichte, Gewaltenteilung und Parlamente viel zu komplizierte Konstrukte. Einfach soll es sein, gut und schön. Ein Führer, eine aufblasbare Idee und militärische Disziplin, die sie aber ohne Druck und Angst nicht aufbringen. Sie mißtrauen jeder selbstregulativen Idee. Deshalb beschwören sie das Chaos herauf, wetzen die Klingen für den Bürgerkrieg und reden ansonsten kübelweise Mist.

Erst als Jelzins Schicksal auf der Kippe stand, schaltete sich das Volk ein. Der Kongreß interessierte einen Dreck. Das Institut für Politische Psychologie in Petersburg veröffentlichte Beruhigendes. Die Bevölkerung – gerade jene, die nicht zu den materiellen Siegern der Reformern gehören – halte noch ein erstaunliches Potential an Geduld parat. Die Menschen wollen nicht zurück, erahnen vielleicht erst jetzt – wohin. Eins aber wissen sie mit Sicherheit: Auch die Wirren der letzten Jahre haben sie schlecht und recht überstanden. Haben sich von der Bevormundung befreit und die Vorzüge der Selbstregulation intuitiv begriffen. Nicht in erster Linie für Demokratie oder Marktwirtschaft ging man auf die Straße. Die Verachtung gegenüber jener Oligarchie in ihrer selbstherrlichen Dummheit, die nicht davon lassen will, beliebig über das Schicksal anderer zu entscheiden, trieb alle. Vor diesen Pappkameraden braucht man keine Angst zu haben. Schrieb Gogol im 19. Jahrhundert: „Es gibt zwei Übel in Rußland, die schlechten Straßen und die Idioten“, heißt es heute: „... – und die Kongresse“. Klaus-Helge Donath, Moskau

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