Das Bad in der Menge

Inmitten des morbiden Charmes öffentlicher Wannenbäder schrubben sich BerlinerInnen, die kein eigenes Badezimmer haben, den Großstadtdreck von der Haut  ■ Von Michaela Schießl

Anfänger erkennt man sofort: Mit eingekräuselten Fußsohlen krebsen sie über die Kacheln, krampfhaft bemüht, nur mit Fersen und Zehenspitzen den Boden zu berühren. Eine junge Frau flucht leise. Wie zum Teufel soll sie den Barfußgang bewältigen, wo mutmaßlich der Fußpilz auf schlappenlose Opfer lauert? Zehn Fliesenmeter liegen vor ihr. Die Frau taxiert die Entfernung, dann stakst sie los, mitten hinein ins Erlebnis Brausebad.

Doch der glitschige Weg zum Wasser ist nichts gegen das schlüpfrige Gefühl, daß die Anfängerin kurz zuvor durchleiden mußte. Stammelnd wand sie sich an der Kasse, bis er endlich herausbrach, der unsägliche Halbsatz: „Einmal Duschen bitte.“ Sie fühlte sich, als würde sie im Sex-Shop ein obszönes Lustutensil erstehen. Nur, daß Baden nun beileibe nichts Unsittliches an sich hat. Aber etwas zutiefst Privates. Körperhygiene ist intim. Und findet seit dem 19. Jahrhundert in Privatgemächern statt, nachdem die Badehäuser als Hort der Unzucht und Ansteckung in Verruf geraten waren. Wer in Gruppen duschen will, der tue das, bitte schön, gut getarnt nach Sport und Spiel. Sich heutzutage öffentlich zu reinigen, mit dem erklärten Ziel der Säuberung, wirkt schrullig. Und ärmlich.

„Nehmen Sie ruhig die ganz hinten links“, schreit die Badewärterin, den Schrubber in der Hand. Ihr Reich sind die tropisch-feuchten Kreuzgewölbe des Stadtbades Prenzlauer Berg, Abteilung Reinigungsbäder. Acht solcher Abteilungen sind in Berlin noch übrig aus der Zeit, als Kaiser Wilhelm seinem Volk die Hygiene ans Herz und die Kernseife in die Hand legte. Das Bad an der Oderbergstraße ist das einzige Waschbad im Osten. Von der Badezimmerversorgung her nehmen sich West und Ost nichts: hier wie dort befinden sich in 92 Prozent aller Wohnungen zumindest Duschen. Was nichts anderes bedeutet als: acht Prozent der Berliner gehen auswärts baden.

„Vor sechs Jahren hatten wir noch 106 Wannen, die mußten weg, weil die Abflüsse marode waren“, erzählt die Badefrau. Weißbekittelt sitzt sie, wie ein Arzt, hinter ihrem Resopal-Schreibtisch, bewacht zwei Föne, die Kasse und – ganz wichtig – die Uhr. „Badezeit 30 Minuten“, steht auf dem selbstgemalten Pappschild. Wer länger braust, muß blechen.

Auf dem Kassentisch liegt eine Illustrierte, Plastikblumen blühen immergrün über gewaltigen Rohren, und ein paar verkleidete Kleinkinder lächeln dümmlich aus Postern heraus. Mit hochherrschaftlichen Badethermen, wo duftendes Wasser vornehm über Marmorwände plätschert, hat die Brausenabteilung am Prenzlauer Berg wenig gemein. Doch die Bewohner hängen an ihr. Als sie kürzlich geschlossen werden sollte, gab es Proteste. Künstler sind es, Studenten, Auszubildende und ältere Leute, die hier wohnen. Leute, die kein Geld haben, sich Bäder in die Wohnungen zu bauen.

Die Anfängerin entblößt sich in Kabine acht. Vier Quadratmeter groß ist das Naß-Séparée – zwei zum Umziehen, zwei zum Brausen. Die Brause hat ihren Namen verdient. Mit der Wucht einer Sintflut schießt das Wasser aus dem antiquierten Duschkopf. Derart stark, daß auch die letzte Schuppe vom Kopf geschwemmt wird. Für Männer mit schütterem Haar mag der harte Strahl ein Unglück sein. Whirlpool- und Massagefreaks kann er glücklich machen.

Wohlig kneift sie die Augen zu und läßt sich bearbeiten. Als sie die Augen wieder öffnet, erscheint die Welt viel schöner. Die klemmende Armatur geht auf einmal leichter, selbst die Lacknasen, die von den tausendmal überstrichenen Rohren schniefen, haben einen gewissen morbiden Charme. Die Haut prickelt angenehm, und die Anfängerin beschließt, noch ein paar Minuten länger zu genießen. Schöner als das, glaubt sie, kann nur noch eins sein: Ein heißes Wannenbad, voll bis zum Rand.

Einen Tag später öffnet die Anfängerin, der Badelust verfallen, die schweren Portalstüren zum Stadtbad Neukölln und steht unversehens in einer prunkvollen Empfangshalle. Das 1914 errichtete Gebäude gilt als das schönste Bad Berlins. Hier findet der Fan römischer Bäder schwarze Marmorwände, gläserne Kuppeln, verspielte Säulengänge. Eine breite Treppe führt ins Schwimmbassin, vorbei an wasserspeienden Walrössern. Hier, mitten im Arbeiterviertel Neukölln, hat die feine Badekultur überlebt – überall, außer in der Reinigungsabteilung. Die nämlich wurde 1984 beim Umbau brutal und lieblos verkleinert. Von den über dreißig Wannen verblieben nur acht. Mehr werden nicht mehr gebraucht, nur wer zur Stoßzeit kommt, so gegen sechs Uhr abends, am Samstag oder vor Feiertagen, muß warten. Doch dann, für vier Mark, gibt's das ganz private Bad in der Menge.

„Einmal Wannenbad bitte“, sagt die Anfängerin, und diesmal kommen die Worte schon flüssiger über die Lippen. Wenig später wird sie von Badewärterin Renate Minow eingewiesen. Im Nachbarabteil plätschert das Wasser. „Dauernd lassen die nachlaufen“, sagt Renate Minow. Alle lieben's heiß.

Als sich endlich die Kabinentür öffnet, schreckt die Anfängerin zurück. Im ersten Moment wirkt die strahlend weiße Sterilität befremdlich. Alle liebgewonnenen Reliquien der privaten Badekultur fehlen: Der muschelne Seifenhalter, der Stöpselfrosch, die Schwimmente, die Shampooflaschen. Kein Naturschwamm liegt am Beckenrand, kein Sisalhandschuh, der auf seinen Einsatz wartet im vergeblichen Kampf gegen die Zellulitis. Die Schlichtheit hat fast etwas Philosophisches: Ich bade, also bin ich. Aber was? Ohne eigene Badewanne auf jeden Fall.

Doch die Anfängerin läßt sich nicht abschrecken. Fest steht: das heiße Körperbad hat günstige Auswirkungen auf Körper und Hirn. Über Archimedes, den bedeutenden Mathematiker der Antike, ist Folgendes überliefert:

„Samstag war's,

da ging per pedes

in das Bad Herr Archimedes,

denn er war von Zeit zu Zeit

auch ein Freund der Reinlichkeit,

insbesondre samstags.

Und er sprach zu Marianne:

Fülle flugs die Badewanne

– spare nicht – bis an den Rand.

Denn ich will mit eigner Hand

heut etwas entdecken...“

Marianne tat ihm die Liebe, Archimedes ließ sich ins Wasser gleiten, plätscherte ein wenig und rief plötzlich: „Heureka – ich hab's“. Tatsächlich, er hatte es – das Archimedische Prinzip, das als Hydrostatisches Gesetz das Gleichgewicht der Kräfte bei ruhenden Flüssigkeiten umschrieb.*

Blauer Badeschleim glibbert ins Wasser. Wie geschlagener Eischnee liegt der Schaum zentimeterhoch auf der Wasseroberfläche, als die Anfängerin andächtig in die Wanne gleitet. Entspannen und nachdenken wie Archimedes. Der Nachbar, eine Pappwand weiter, seufzt unentwegt. Draußen pustet ein Fön, irgendwo planschen Kinder johlend mit ihrer Mutter herum. Da soll einer philosophieren können. Es ist warm, so wunderbar warm und gemütlich. Ach, Archimedes. Die Lider werden schwer, die Gedanken leicht. Wie schön wäre es doch, gäbe es noch die Bäder von einst, die, wo man zu zweit in der Wanne sein durfte.

Wie damals, 1360, in der Anstalt Crögel. Sie war das erste Badehaus Berlins, das ein privater Bader nahe dem Molkenmarkt in der Stralauer Straße 32 eröffnet hatte. Besonders berühmt war der Crögel für „warme Bäder für beide Geschlechter in Eintracht“. Einträchtig gebadet wurde in Feuertonbottichen, die dicht gedrängt und ohne Trennwände in einer Halle standen. Zwei Personen saßen in einer Wanne, meist Mann und Frau, und waren nur durch ein Holzbrettchen getrennt. Auf dem Brett standen Wurst, Wein und Brot. Man parlierte und ließ sich den Rücken bürsten. Das war echte Badekultur ...

Mit einem Poltern kehrt die weiße Schlichtheit zurück. „Frooleenchen, Sie träumen wohl! Die halbe Stunde ist um.“ Ungehalten rüttelt der Badewärter an der Tür. Die Anfängerin hechtet aus der Wanne, halbnaß in die Klamotten, und nichts wie raus. Mit Bademeistern, die Gummischlappen mit zwei Streifen tragen, ist nicht zu spaßen. „In der Stoßzeit darf das nicht passieren“, mahnt Renate Minow. Und berichtet von unflätigen Kunden, die einfach nicht mehr aus der Wanne wollen. „Die schreien dann, hau ab, alte Kuh, verpiß dich.“ In solchen Fällen ruft sie den brummigen Kollegen mit den Zweitschlüsseln.

Für Notfälle, wenn jemand nicht mehr rauskommt oder gar kollabiert, sind neben jeder Wanne Notschalter installiert. Ein Druck und der Badewärter eilt herbei. „Einmal gab es hier einen Selbstmordversuch. Da hat sich einer die Pulsadern aufgeschnitten. Das ganze Blut ist zum Nachbarn rübergelaufen, der hat uns dann alarmiert.“ „Psycho“ als Wannenvariante.

Meist jedoch hat Frau Minow nur mit gewöhnlichen Regelübertritten zu kämpfen. Die Badevorschriften sind eindeutig: Saufen und Rauchen verboten. Seufzen wird geduldet, Badezusätze sind erwünscht. Nur ein Mensch pro Wanne, ausgenommen Kinder. Doch die Kundschaft zeigt mehr Phantasie als die Regelmacher: „Am Anfang haben die hier sogar ihre Wäsche gewaschen. Fragen Sie nicht, was da am Wannenrand alles hängenbleibt.“

Mit dem Lärm nimmt sie es, zumindest samstags, nicht so genau. Da kommen Türkenfamilien mit unzähligen Kindern zum Baden. Bedächtige Stille ist da nicht zu erwarten, es herrscht quietschfidele Betriebsamkeit. „Dann“, sagt Frau Minow, und läßt die goldenen Ohrringe schaukeln, „ist es wieder ein bißchen wie früher, als wir noch vierzig Wannen hatten, zweiundvierzig Brausen und über tausend Kunden pro Tag.“

*Aus: Sybille Schall: Immer sauber bleiben ... Eine Kulturgeschichte vom Bad und vom Baden, Berlin 1977.