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Auf Pawlows Spuren: Feuerritual an der Elbe

... oder war's etwa doch nur ökologischer Pragmatismus? / taz-Mitarbeiter Uli Mendgen guckte erstaunt ins  ■ Osterfeuer

Pyromanen aller Länder verbrennt euch: Tausende Freunde und Freundinnen der Feuerbestattung pilgerten am Samstag einmal mehr zu den traditionellen Osterfeuern — das Alsterleuchten noch im Kurzzeitgedächtnis. Oder wie sonst soll sich mensch bitte schön erklären, daß das primitive Abfakkeln von hölzernem Treibgut Tausende HamburgerInnen dazu veranlaßt, wie die Lemminge zum Elbstrand zu stürzen? Und das auch noch in einer überaus kühlen Nacht. Die Fortsetzung also der Lichterkette mit anderen Mitteln — Elbe statt Alster, Feuer statt Kerze, ansonsten fast ebenso belanglos und sinnentleert wie das Original?

Oder Rückfall in alte Stammesrituale, das am Lagerfeuer zu neuem Leben erweckt: Erinnerung an die rätselhafte Frühlingsgöttin Ostara, die schon von unseren Vorfahren mit Freudenfeuern beehrt wurde. Oder die Feier des Lichtgottes, der bekanntlich morgens aus dem Osten heraneilt? Kollektive Erinnerung an vorzeitliche Riten zur Sommersonnenwende, die mit magischer Anziehung uns alle, vom Villenbesitzer mit Elbblick bis zum Bauwagenbewohner mit Kiffblick, dazu bringt, stundenlang ins Feuer zu starren und sich Klamotten und Haare vollqualmen zu lassen?

Vielleicht war's ja auch nur öko-

1logischer Pragmatismus, denn wohin sonst mit den Formaldehyd-behandelten Billy-Regalen. Oder handelt es sich schlichtweg um hanseatische Gemütlichkeit, um deretwillen jeder Hänsel beim Anblick

1einer Flamme gleich Grillwurst und Bier heranschleppen muß, seinen Liegestuhl aufstellt, die Klampfe bearbeitet und Pfadfinderromantik spürt? Schon eher großstädtischboomtownmäßige Lebensart: in der

1fünften Reihe parken, in der fünzigsten Reihe glotzen. Savoir vivre auf Pawlows Spuren. Nichts ist unmöglich: am Feuer sind wir alle eine große Family.

„Tu was fürs Vaterland“, brüllt

1eine Glatze und wirft drei gespreizte Finger in den Himmel, „schmeiß einen Türken 'rein!“ Feuer bringt die Volksseele zum schmelzen. Ich schließe die Augen. Es brennt.

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