piwik no script img

Im allerletzten Moment

■ Dokumentarfilm über den Aufstand im Warschauer Ghetto, So., ARD, 23 Uhr

Es gibt Momente, da möchte man die Augen zum Himmel wenden und dem Allmächtigen dafür danken, daß es die verschnarchten Öffentlich-Rechtlichen noch immer gibt. Zum 50. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto sendet die ARD eine Arbeit des holländischen Dokumentarfilmers Willy Lindwer: „Das Tagebuch der letzten Helden“. Der vom WDR produzierte Film kommt buchstäblich im allerletzten Moment.

Von den etwa 50.000 Juden, die im April 1943 im Ghetto Warschau lebten, kamen die meisten während des Aufstandes ums Leben, die Überlebenden, die sich in Kellern verbarrikadiert hatten, wurden in Treblinka vergast. Von den rund 500 jüdischen Ghetto- Kämpfern, die fast einen Monat lang, vom 19. April bis zum 16. Mai, einen ebenso aussichtlosen wie verzweifelten Kampf gegen die deutschen Besatzer – SS, Polizei und Wehrmacht – führten, überlebten etwa ein Dutzend. Sechs von ihnen hat Lindwer aufgespürt und interviewt: Marek Edelman in Polen, Masha Putermilch, Pnina Grynszpan, Hella Rufeisen, Simcha Rotem und Aharon Carmi in Israel. Edelman spricht polnisch, Hella Rufeisen deutsch, die übrigen vier jiddisch, jene wunderbare Sprache, die mit den drei Millionen polnischen Juden fast ausgerottet wurde. Klugerweise hat die Redaktion die jiddischen Originaltöne nicht mit Voice-over, sondern mit Untertiteln übersetzt.

Auch sonst ist Lindwers 50-Minuten-Film, der außer in der BRD auch in Frankreich, Holland, Israel, Polen und Schweden gezeigt wird, von einer gradlinigen, unprätentiösen Art. Er läßt seine Zeugen ihre Geschichte erzählen und montiert zwischen die Statements historische Filmaufnahmen aus dem Warschauer Ghetto. Mit Marek Edelman geht er an das letzte stehengelassene Stück Mauer, welche das Ghetto vom übrigen Warschau trennte. „Es waren zwei verschiedene Welten“, sagt Edelman, „hier war die Welt des Hungers und die Welt, die zur Vernichtung verurteilt war, und dort war eine gequälte aber lebende Welt.“ Fast eine halbe Million Juden wurden von den Nazis auf dreieinhalb Quadratkilometern zusammengepfercht, im Juli 1942 begannen die Massendeportationen in die Vernichtungslager, täglich wurden 8.000 bis 10.000 Menschen in Viehwaggons abtransportiert. „Die Menschen haben nicht geglaubt, daß sie in den Tod fahren würden“, sagt Simcha Rotem. „Niemand wollte es glauben, denn die Menschen glauben solche Dinge nicht“, sagt Marek Edelman. „Ich habe geschossen, zum ersten Mal in meinem Leben“, sagt Masha Putermilch. Die ersten Pistolen wurden auf der „arischen“ Seite gekauft, im Laufe des Aufstands wurden die Waffen der getöteten Deutschen erbeutet. Obwohl total unterlegen, schafften es die Juden, den mit Panzern anrückenden deutschen Einheiten fast einen Monat die Stirn zu bieten. Nachdem der Kommandobunker der Aufständischen am 8. Mai von den Nazis entdeckt wurde, beging ein Teil der Kämfper Selbstmord, einigen gelang die Flucht durch die Kanalisation. Am 16. Mai war alles vorbei, der „jüdische Bezirk von Warschau“ eine qualmende Trümmerlandschaft.

Der Aufstand im Ghetto Warschau war nicht der einzige, aber der wichtigste Akt jüdischen Widerstands gegen die Nazis. Doch eines macht Willy Lindwers nüchterne, unpathetische Dokumentation klar: Die „letzten Helden“ waren eigentlich Helden wider Willen. Sie hätten viel lieber weiter in den Organisationen, denen sie angehörten, der „Gordonia“, der „Poale Zion“, dem „Bund“, über die verschiedenen Wege zum Sozialismus diskutiert, als sich auf einen bewaffneten Kampf eingelassen, bei dem sie am Ende nur die Wahl zwischen Tod und Selbstmord hatten. An die Möglichkeit, fünfzig Jahre später im deutschen Fernsehen über ihr zufälliges Überleben zu berichten, konnte 1943 keiner denken. So irre kann Geschichte sein. Dank je wel, Willy. Henryk M. Broder

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen