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Spiralbewegung, abwärts

Dževad Karahasans Roman um drei exemplarische islamische Intellektuelle  ■ Von Balduin Winter

Zwei die Welt verändernde Bücher hat Vorderasien hervorgebracht. Das ältere, die Bibel, hat Europa umgewälzt. Das jüngere, der Koran, revolutionierte den Orient und Nordafrika und bordete über die Ränder Europas herein. Von den Anhängern des anderen Buches zurückgedrängt, hinterließ es freilich Spuren auf dem Kontinent. Vier Jahrhunderte Türkenherrschaft haben den Balkan und das Bewußtsein seiner Bewohner gezeichnet.

Nirgendwo wird das so deutlich wie in Sarajevo. Kein Wunder, daß es ausgerechnet ein Autor aus dieser Stadt ist, der den geistigen Wurzeln dieser Vergangenheit nachspürt. Dževad Karahasans Roman „Der östliche Diwan“ (Istočni Diwan) führt uns in die Frühzeit des Islam, an die Ufer des Schatt el- Arab und des Tigris, nach Basra und Baghdad. Er führt uns mit den Mitteln westlicher Literatur – Briefroman, innerer Monolog, Politthriller, historischer Roman, philosophischer Traktat – in ein östliches Thema, in dessen Zentrum die Auseinandersetzung um den Koran steht, um seine wissenschaftlichen, sozialen und philosophischen Folgen — und um seine Funktion als Stützpfeiler der Herrschaft.

Karahasan hat seinen Roman in drei Teilen angelegt, deren Hauptperson jeweils ein bedeutender Schriftgelehrter während der Ära des arabischen Abbasidenreiches (750–1258)ist. Der erste ist Abdullah ibn al-Mukaffa (etwa 720–756), ein Perser, der in Basra lebte und höchst innovativ auf die islamische Literatur wirkte. Seine Übersetzungen aus dem Persischen trugen wesentlich zur Verschmelzung des islamischen Geschichtsbildes mit der Tradition der Perser bei. Seine Adabs (ein arabisches Literaturgenre, eine Art unterhaltsam bildender Essay) waren Vorbild für viele Generationen islamischer Literaten. Der Briefverkehr Mukaffas mit seiner Frau im fernen Ostpersien ist das Dokument einer dreifachen Liebe: zur Frau, zum Wissen, zu Allah. Die Liebe zum Wissen hat hier bisweilen aufklärerische Züge; Begzada, seine Frau, erschrickt vor seiner Auffassung vom Menschen, der mit Vernunft und Willen die ganze Welt ordnen könnte. Mukaffa, der Humanist, sieht hingegen seine Liebe zum Menschen als Bestandteil der Liebe zu Gott, ist Er es doch, der den Menschen zu Vernunft und Gerechtigkeit befähigt. Die islamische Lehre ist jedoch schon auf dem Weg zum systembewahrenden Kult und wittert in den neuen Ideen nicht die fortschrittliche Reform, sondern die umstürzlerische Häresie – konsequenterweise wird Mukaffa bespitzelt. Als er, trotz guter Kenntnis der politischen Lage, auch noch den Fehler macht, sich für den besiegten Rivalen des Kalifen einzusetzen, muß Rushdie, pardon, Mukaffa dafür büßen.

Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht Husain ibn Mansur al- Baydawwi al-Hallag (etwa 858–922). Er war eine der markantesten Erscheinungen unter den islamischen Mystikern. (Goethe hat von ihm für seinen „West-Östlichen Diwan“ abgekupfert.) Geschichte machte sein Ausspruch „Ana 'l-haqq“ („Ich bin die absolute Wahrheit“), wofür er der Ketzerei bezichtigt wurde. Kern der Anklage dürfte allerdings gewesen sein, daß Hallag mit aller Deutlichkeit auf die schreienden Mißstände hinwies und den sozialen Gehalt des Islam betonte, indem er gerechte Besteuerung und das Ersetzen kultischer Rituale durch Akte der Nächstenliebe forderte. Demgemäß gestaltet Karahasan ihn als Revolutionär und Erneuerer des Glaubens, der ungeachtet aller Vorschriften der Obrigkeit seinen Weg geht. Das weckt auch das Mißtrauen des Polizei-Emirs und Herrn über die Staatssicherheit von Baghdad, Gazvan, der in ständiger Angst lebt, die Gunst seiner Förderer verlieren zu können. Eine Serie eigenartiger Morde bereitet ihm gewaltige Probleme. Von allen Seiten unter Druck gesetzt, von Hallag in seiner Eitelkeit schwer beleidigt, entwickelt Gazvan eine höchst merkwürdige Verschwörertheorie, für die ihm Umberto Eco eine Rose streuen würde. Seltsam aktuell wirkt auch die Schilderung des Polizeiapparats und seiner Methoden, bedrückend das Bild vom siebengeschossigen Gefängnis; die historische Distanz zwischen dem neunten und unserem Jahrhundert wird eingezogen.

Und schließlich gibt es da noch den miß- und unverstandenen Abu Hayyan at-Tawhidi (etwa 932–1023). Zu seiner Person muß gesagt werden, daß er ein scharfer und tapferer Kritiker der Obrigkeit und der Wesire war, weshalb er von der Macht und ihren intellektuellen Schleppenträgern geschnitten wurde. Karahasan stellt aber andere Seiten Tawhidis in den Vordergrund. Angesichts des allgemeinen Niedergangs der Sitten figuriert der Gelehrte als Vorreiter für eine gereinigte Lehre und für die Einhaltung der alten Gesetze. Er beruft sich dabei auf die Schriften al-Mukaffas, insbesondere auf dessen Ideal von Weisheit und Gerechtigkeit.

Vor der Wirklichkeit eines dekadenten Reiches zieht sich Tawhidi in eingebildete Welten zurück, in denen er die großen Namen der Vergangenheit wieder aufleben läßt. Ergreifend und lächerlich zugleich wirkt es, wenn er eine Hure zur Rabija al-Adawiya, eine hochverehrte Mystikerin, hochstilisiert. Sein Gegenspieler ist der Stellvertreter des Polizei-Wesirs, der durch die Aufdeckung einer großen Verschwörung Farbe in seinen Alltag bringen möchte. Nichts liegt näher, als den suspekten Glaubenserneuerer und Dissidenten Tawhidi ins Zentrum eines Komplotts hinein zu phantasieren. Der Politthriller der zweiten Episode wiederholt sich hier als Farce.

Karahasans Grundfigur seines „Diwans“ ist eine Spiralbewegung – freilich keine, die vom Niederen zum Höheren strebt. Die üppigen Arabesken seiner Erzählung folgen den Abwärtsbewegungen der Figuren, in denen sich der historische Niedergang spiegelt. Der Roman setzt ein zu einem Zeitpunkt, da die Abbasiden im Begriff sind, ihre Macht zu festigen, die sie den umaiyadischen Kalifen entrissen haben. Doch der Glanz der Kalifen al-Mansur und vor allem Harun ar- Rajid kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das arabische Reich seinen Zenit erreicht hat. Seine Expansionskraft ist bereits erlahmt, die integrative Wirkung des Islam läßt nach. Zur Zeit Hallags ist die Einheit des Reiches schließlich verloren gegangen; mehrere Teilreiche haben sich von Baghdad abgelöst, religiöse und soziale Unruhen erschüttern das Land. Zu Tawhidis Zeit ist der Kalif als politischer Herrscher längst entmachtet, ein bujidischer Oberwesir führt die Geschäfte des Staates, der jede fortschrittliche Rolle verloren hat.

Karahasan bietet weit mehr als Spannung und Unterhaltung. Er lüftet unsere eurozentrischen Scheuklappen, führt uns ein in die Geschichte des Islam und einige zentrale Themen seiner frühen Literatur und Philosophie. Explizite aktuelle Bezüge werden vermieden; sie erschließen sich dem Leser jedoch leicht, wie etwa beim Thema der Dissidenz. Die gesellschaftlichen und ideologischen Widersprüche, die die Spiralbewegungen seiner Prosa vorantreiben, muten modern an: es scheint von Sarajevo in Europa nach Baghdad in Asien nicht weit zu sein. Indem Karahasan in den Tiefenschichten der islamischen Kultur schürft, legt er die unterirdischen Verbindungen zwischen den beiden Metropolen bloß. Balduin Winter

Dževad Karahasan: „Der östliche Diwan“. Roman. Aus dem Serbokroatischen von Katrin Becker. Wieser Verlag 1993, 450 Seiten, 42.50 DM

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