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Mennigrot in kleinsten Portionen

Zum „Steinschlag“ von Anne Duden  ■ Von Uta Ruge

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Während eines Besuchs in Deutschland erreichte mich zusammen mit einer Geburtstagskarte die Fotokopie einiger neugeschriebener Seiten. Es war ein besonders kalter Februar. Die Familie und das Deutsche legten sich mir wieder einmal enger und enger um den Hals.

Abends im Gästebett, umgeben von den staubigen Möbeln aus einer früheren Lebensphase meiner Gastgeber, las ich dann: „Mennigrot in kleinsten Portionen / aufgesternt / Wortanhauch oder -flug. / Gauchheil / gegen Sticktau am rissigen Boden.“ Ich verstand kein Wort – und las weiter, gierig nach dieser Fremdheit, mitgenommen von einem Rhythmus, der mich aus mir herausholte.

„In England mehrmals auf und ab gegangen. / Wasserfall eines Teiches im verdüsterten Ohr / Tag und Nacht / durch Espenlaub / für sich oder einwärts.“ Das war die Sprache, Wortnahrung, die ich jetzt brauchte, – weil sie mitbrachte und verlangte, was es so selten gibt, nämlich äußerste Aufmerksamkeit für das, was geschieht, Innen und Außen.

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„Alles blieb ungesagt“, schrieb Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht über einen Besuch beim Bruder in England. Das Gegenteil ist bei Anne Duden der Fall: Alles wurde sagbar in England. Als sei der Ortswechsel Rettung gewesen, öffneten sich hier die Schleusen, flossen die Worte leichter. Im Umfeld der Sprache ließen sie sich neu entzünden. Der englische Titel ihres ersten Buches „Übergang“ ist „Opening of the Mouth“: Das Öffnen des Mundes. Daß die Öffnung von Außen kam, darauf verweist das Umschlagbild, ein Detail aus dem Bartholomäus-Altar (Bremen), „Christus als Schmerzenmann“. Es zeigt die klaffende Wunde in der Seite und das Blut, das aus ihr fließt. „Steinschlag“ hat dieses Bild für den Umschlag noch einmal aufgenommen.

„Steinschlag“ heißt der erste Text in diesem Buch, dem dritten der Autorin nach „Übergang“ (1982) und „Judasschaf“ (1985). Er setzt ein wie ein leise gesungenes Lied an einem grau bewölkten Tag von unbestimmter Trauer:

„Der Tonfall ein Dauerregen / gleichmäßig geschnürt Litaneien des Verhangenen / in denen die Bilder ertrinken...“ Die Worte reihen sich auf, erst leicht und dann beruhigend übergangslos; Arbeitslager, Eisentore, Abflußrinne stellen sich ein, und schon wissen wir wieder, woher wir kommen, woher unsere Sprache kommt, aus welcher Geschichte wir und sie gemacht sind. „Die Worte krümmen sich nach innen / und stecken gebückt in den Verstorbenen / nach einer solchen Nacht.“

Die Sprache ist offen für alles. Alles schwemmt in sie hinein, wird mal mitgerissen, mal sinkt es auf den Grund. Was das Auge denkt und das Hirn sieht, wird uns zu Gehör gebracht. Wie ein „Herz hinschlug“ und „auslaufend erst zur Ruhe kam“. Wie eine Stein atmet in Aix-en-Provence. – Tut sie es, weil sie das Unkorrumpierbare, das Schwerste, das Skelett der Erde sind, dem ein Irdisch-Unirdischer seinen Atem leihen muß, um die Welt zum Leben zu bringen, wie Cezanne es hier einmal tat, wie es jeder auf seine, jede auf ihre Weise und egal wo tun muß? So daß Sprache Blut in die Adern gießt durch Benennung, es kreisen läßt, um zu zeigen, daß Leben ist?

„Hölderlin als Siebzigjähriger / AUF DEN GASSEN DER GÄRTEN / starren Auges vornübergebeugt / immer geradeaus der einwärts geschlagenen Blickrichtung nach / ohne Weg- und Wendemarke / eine Schlacke mit geladenem Gedächtnis / AN ZIMMERN. / Aufmüpfig der Körperrest / nachts randalierende Zeitruine / damit einmal im Gedicht / im letzten Vers ABER / DIE LIEBE LIEBT / allein in der tagsüber geheizten Einöde / wo die Festen am Hinterkopf nur durch Genickschuß zu sprengen wären.“

In diesen Passagen, die von großer Verlassenheit und Wut geprägt sind, hat eine überragende Meisterschaft des Wortes Gestalt gefunden. Wenn wir uns trauen, sind sie Tropfsteinhöhlen auch unseres Nachtlebens, unserer Angst, unseren Erinnerungsbrocken aus kollektiver Kindheit und Liebesversuch, gemischt hier mit den Tagresten einer Wirklichkeitsfurie, die alle Illusion von einem schönen Leben erbarmungslos auflöst. Was übrigbleibt, sind die Knochen und Steine und Zersetzungsreste einer Welt, in der Sprache weiter versucht, selbst das Weichste und Blühende neben dem anderen noch aufzuspüren und, wie zum Trotz, zu benennen.

Aus dem Überlebensmittel der Sprache, deren Genese im „Übergang“ so präzise und bewegend beschrieben ist, und die im ,Judasschaf' schon Dichtung und Auftrag geworden war, ist hier ein Lied geworden, dessen rätselhaft-erotische Intensität sich Zeile für Zeile, Seite um Seite beweist. Man versuche einmal, dieses Buch in einem Zug durchzulesen.

Klang und Rhythmus der Worte ziehen schneller und tiefer hinab in das Strömen, während die Bedeutung zur Gegenbewegung zwingt, zu größter Verlangsamung, zum Stillstand. Auf diese Weise spannt man sich lesend zwischen Anfang und Ende und legt sich, für den Moment jede Distanz aufgebend, neben den Text. Wort für Wort muß abgetastet und entziffert, jede Zeile gedreht und gewendet werden. Nur so findet sich, vielleicht, eine Antwort, ein Resonanzboden im eigenen Körper und Kopf. Desorientierung und Staunen drängen sich wieder als Bedingung dafür auf, daß man etwas bebreift, das Fremde, andere, um das es hier geht.

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Dem zweiten Text des Bandes, „I AM YOUR ONLY SURVIVING MEMORY“, liegen zwei Bilder zugrunde, zwei Drachenkämpfe, der eine von Dürer, der andere von Altdorfer. Aber es liegt ihm auch ein Leben zugrunde, und deshalb haben Verlag und Autorin gut daran getan, dem Band keine Reproduktionen der Gemälde beizugeben. Denn es geht hier, im vielleicht zugänglichsten Text des Buches um die weibliche Verzweiflung am Männlichen. Nicht nur in alter Malerei ortet sich das immer wieder selbst entfallende Ich, sondern ebenso auf Müllhalden und auf den Randstreifen von Autobahnen. In solchen Landschaften findet sich, was weggeworfen, übersehen, aus den Räumen männlicher Wahrnehmung und Effizienz deportiert ist, „Augapfelreservat einiger übriggebliebener Frauen / die heimlich an den overground Bahnhöfen / Malvensamen aussetzen / und im Sommer die Strecken prüfend abfahren / in unauffälligen Spähtrupps.“

Geht es hier um „das Männliche“ oder um „das Deutsche“? Oder ist das eine die Apotheose des anderen?

„Etliche aus Deutschland / dem FUGGER AD zum Verwechseln ähnlich. / Auf einmal. / Bei Frühreifen ab Mitte Dreißig bereits / die eingefressenen mürrisch verfransten Mundbörsen / und geharnischten Pupillen. / Geballte Scharfmacher / mit aufgebracht abrechnenden Blicken / oder kompakten Tätlichkeiten / pausenlos abschmetternd / was unaufgefordert ihren Weg kreuzt / nicht kurz angebunden parallel verläuft in vorgeschriebener Richtung. // Dabei selbst unrettbar verklemmt und verkeilt / in eigenheimlicher Verdrückung und Materialschwemme.“

Eine ganze Kultur hat sich in ein Abbild des von Albrecht Dürer gemalten Bankiers verwandelt. „POTENTIA oder der Liebe den Kopf abgetrennt. Standort ist der tote Leib. SIE BEFINDEN SICH HIER“, – wie es in dem Text „Der Auftrag oder die Liebe“ in Anne Dudens erstem veröffentlichten Drachenkampfpassus im „Übergang“ heißt.

Das eine und das andere zu benennen, das im deutschen Zusammenhang immer besonders schnell sich definiert als Täter und Opfer, dafür war das im gesamten christlichen Abendland anzutreffende Motiv des Drachentöters offenbar eine gute Wahl. Bis heute sind schließlich Würmer und Schlangen, Käfer und Fledermäuse – und aus den Zutaten solcher Körper setzt sich der Drache zusammen – Inbegriff verachteter Klein-, Weich- und Schleimteile. Das Körperliche, das Ungepanzerte, Weiche in den Abgrund des Unrepräsentierten zu stoßen, das scheint jahrhundertelang und von Gottes Gnaden allüberall dringlichstes Anliegen gewesen zu sein: Auf Tausenden von Brunnen, Marktplätzen und in den Nationalgalerien Europas tummeln sie sich, beritten und unberitten, die den Drachen töten, Hieb auf Stich auf Schlag.

In ihrer (unveröffentlichten) Vorlesung am Germanischen Seminar der Universität Hamburg hat Anne Duden sich 1987 ausführlich mit den Drachenkämpfen beschäftigt, – die ihr und uns, ihren FreundInnen, bei jeder Reise, jedem Museumsgang mehr und mehr ins Augen stachen und vor die Füße fielen.

Ihr Arbeitszimmer füllte sich mit Abbildungen, Fotokopien und Vergrößerungen und immer deutlicher wurden dabei auch die nationalen Unterschiede in der Darstellung der Mordopfer, als die wir die geflügelten und geschwänzten Kreaturen sehen lernten. Und es scheint, daß die Deutschen und unter ihnen Albrecht Dürer den Vogel buchstäblich abschossen in der Verächtlichmachung des Gewürms und der Unantastbarkeit seines ewigen Überwinders:

„In Deutschland auf den Rücken geworfen / wenn's hoch kommt auf die Seite gewälzt / die bleiche Unterseite hingespreizt / fischblütig lüstern gepfählt / von streng verkniffenen Recken / und der Geilheit und Putzsucht beflissen vorgelegt: / klaffende After und Schlitze / Zitzen / zahllose Brüste / angeschnittene Kehlen gegerbte Gliedmaßen / durchbohrte Zungen und Schlünde / durchstoßene Schädelrückwände / direkt neben dem nervösen Tänzeln der Angestellten / der buckelnden Fürbitte der Versprochenen / dem Achthaben der Auftraggeber. / Öffentliche Beschlagnahme durch Fahnenpflanzungen ins / lichtscheue Sonnengeflecht. Ausgekörperte Lebensziele / alleingültig und sattsam dem Endverbraucher zugestoßen.“

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Pflanzen wahrzunehmen, ihre stille subversive Gegenwart, ihre unendlich variierenden Formen und Farben, ihr Ausruh- und Trostpotential im Alltag, das habe ich auf vielen Spaziergängen in englischen Gärten von Anne Duden gelernt. Und daß diese Bäume, Blumen und Kräuter Namen haben, in deren altertümlicher Konkretheit Sprache ihre Kraft wieder zeigt und uns an das ursprünglich erlösende und magische Benennen und Benamen erinnert: Frauenschuh, Männertreu, Wundklee und Gauchheil.

Was sich da enthüllt, in Pflanzennamen und Farbbezeichnungen – Kobaltblau, Safrangelb, Mennigrot –, ist eine Beziehung zur Welt, die an die Körperlichkeit der Welt und damit unsere eigene erinnert. Sie versetzt die niedergemähten Wünsche in die Erinnerung des Körpers und in die aus ihm wachsende Krankheit Tod. So auch im Erzengel, Ritter, Drachentöter: „Ein leises Wehen ging durch den Federbusch auf seiner Helmspitze / wie durch zartgewachsene locker auseinanderfallende Farnwedel / Traumkraut seines Schädels / dessen Keime heimlich die Fontanelle geöffnet / wuchernd und ausschlagend den Helm durchstoßen hatten.“

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Was ist Verständlichkeit in der Literatur, besonders in der Lyrik? Was gewinnt man, wenn einem alle klassischen, biblischen, hölderlinschen und kunstgeschichtlichen Wort- und Sinnspiele in „Steinschlag“ durchbuchstabiert werden? Was versteht einer mehr, wenn ich sage, daß die drei kurzen und äußerst verdichteten Abschlußtexte des Bandes – Rio Terra, Trifolium Tetrachord, Mundschluss – der gleichen Bewegung gehorchen, wie sie die Autorin in ihren beiden ersten Büchern schon vorgeführt hat, nämlich die einer ins Schweigen, an ihren Ursprung geführten Sprache, deren Triumph dadurch erst recht sichtbar ist: dennoch nicht zu verstummen?

Die Bezüge in diesen Texten entziffern – einen Ort als Venedig, ein Musikzitat von Monteverdi und eine Drachendarstellung von Uccello, – für Germanisten und andere Eingeweihte mag das befriedigend sein, aber es steht ihnen sicherlich auch im Weg.

Wie Paul Celan einmal sagte, suchen Gedichte ein „Herzland“, um anzukommen. „Gedichte sind ... unterwegs. Sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.“

Sie sind ein „Gelände“, in dem der Dichter von sich und seinen Lesern verlangt, voranzugehen, um Peter Szondi über Celan hier einmal zu paraphrasieren. Für solchen Gang braucht man, was im Heute des unendlichen Gemurmels entfremdeter Selbstbilder und der allmächtigen Abwesenheit des Todes nicht leicht zu haben ist. Denn der Königinnenweg des Verstehens ist der Körper in seiner Zeit.

Anne Duden: „Steinschlag“. Kiepenheuer&Witsch, 61 Seiten, 29.80 DM

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