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■ Ein Appell, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, statt sich vom allgemeinen Ruf nach Realpolitik verführen zu lassenAus der Militärlogik aussteigen

„Bella gerunt alii“ – andere führen Kriege, „tu felix Austria nube“ – du, glückliches Österreich, heirate: Das war einmal, für einen kurzen historischen Augenblick im 18. Jahrhundert, die politische Maxime der habsburgischen Monarchie. Sie wurde bald von den Realpolitikern wieder über Bord geworfen und verkümmerte zur grammatischen Lernformel für Lateinschüler. Damals hatten kluge Kanzlisten den Versuch gemacht, aus der Kriegslogik der übrigen europäischen Staatsmänner auszusteigen: Sollten die ruhig ihre Kriege führen – Habsburg aber friedlich-dynastische Heiratspolitik betreiben. Was die meisten an gefährlichen politischen Dummheiten betrieben, mußten doch nicht alle, sollte wenigstens dieser eine Staat nicht mitmachen. Einer muß den Anfang machen, aus der „historischen Logik politischer Unvernunft“ auszusteigen. Aber dann hatten die Realpolitiker wieder das Sagen und denunzierten erfolgreich die Aussteigewilligen als blauäugig und politikunfähig. Die Folge waren weitere Kriege, Weltkriege schließlich, und auch der Untergang des Habsburger Reiches, das immerhin und trotz allem noch so etwas wie eine fast zweihundertjährige Friedensordnung unter ihren administrativ gegängelten Völkern zustandebrachte – auch auf dem Balkan für Orthodoxe, Juden, Katholiken und Muslime. „Wir werden also auch mit der Herde ins Verderben rennen“, schrieb ein wachsamer Kenner der Politik seiner Zeit und seismographischer Ahnherr ihrer Zukunft, der Weimarer Minister Goethe, der sein kleines Weimar vergeblich aus dem Krieg zur Niederschlagung der französischen Revolutionäre, deren Gewalttätigkeit er unerbittlich verurteilte, heraushalten wollte: „Europa braucht einen 30jährigen Krieg, um einzusehen, was 1792 vernünftig gewesen wäre.“ Weimar wurde kein Modell für den Ausstieg aus der Kriegs-Militärlogik für gesellschaftliche Konfliktlösungen, und der 30jährige Krieg dauerte dann tatsächlich 23 Jahre – letztlich bis heute.

Deutschland, die deutsche Politik, hatte 1989 die historische Chance eines ähnlichen Ausstiegs und außenpolitischen Neubeginns. Wir hatten sie schon ein andermal: 1919, als der Staat von den Siegern entwaffnet wurde; sie nahmen ihre Chance nicht wahr, der Entmilitarisierung des Besiegten die eigene Entmilitarisierung folgen zu lassen, was erstere legitimiert hätte – wir nahmen unsere Chance nicht wahr, weil wir glaubten, uns gedemütigt fühlen zu müssen, statt aus der Not eine Tugend zu machen; und Hitler erntete die Früchte: Das, behauptete man dann, habe man nicht gewollt mit dem Ruf nach auch militärischer Gleichberechtigung. Seit der Wende fordern viele pazifistische Gruppierungen eine Bundesrepublik ohne Armee („BoA“ heißt das Kürzel) und gewannen damit einen nicht unbeträchtlichen Rückhalt in der hoffnungsgestimmten Öffentlichkeit, die nicht einsehen wollte, gegen wen wir denn weiterhin gerüstet sein und uns vorwärtsverteidigen sollten. Daß das für das Selbst- und Weltverständnis der politischen Klasse eine Bedrohung darstellt, liegt auf der Hand. Wenn es den Balkankrieg nicht gegeben hätte, hätte man ihn – oder andere Gefährdungen „unserer Sicherheit“ – erfinden müssen und auch gefunden; 1950 hatte der Koreakrieg ebenfalls zum willkommenen Vorwand gedient, die deutsche Wiederbewaffnung durchzusetzen. Die zur Leerformel deutscher Vergangenheitsbewältigung verkommene Wahrheit, daß die Geschichte sich wiederhole, wenn sie vergessen und verdrängt werde: Sie gilt auch und besonders für die großen Herrschaftsmechanismen und die ihnen geschuldeten Katastrophen.

Diejenigen, die in und von dem System des Politikmachens leben, die ihm ihre Karrieren und ihr Weltbild verdanken, mögen heute teilweise subjektiv sogar davon überzeugt sein, die alten Mittel und Methoden hier erstmalig für neue, gute Zwecke – die Friedenssicherung – einzusetzen. Aber uns, die wir nicht zur politischen Klasse gehören, die sich einer politikkritischen linken, aufklärerischen Tradition verpflichtet fühlen, die heute auch pazifistische Schlußfolgerungen aus den Gewalterfahrungen vergangener Versuche, die Gesellschaft zu verändern, gezogen haben: Uns steht es an, den Kopf frei zu behalten und sich „des eigenen Verstandes“ (Kant) zu bedienen. Wir können und dürfen uns nicht vom Ruf nach Realpolitik, nach „Politikfähigkeit“ verführen lassen – denn es ist ihre Realpolitik, zu der wir fähig gemacht werden und deren schlimme Folgen wir jetzt mit korrigieren sollen, nicht die unsrige.

Der Kampf um den deutschen Ausstieg aus der internationalen Militärlogik ist noch nicht verloren – die politische Klasse der Bundesrepublik hat ihr Ziel einer militärgestützten Weltrolle noch nicht erreicht. Der Eiertanz zwischen Awacs und Bundesverfassungsgericht ist ein nur zu deutliches Indiz für die zu überwindenden Widerstände in einer öffentlichen Meinung, zu der auch wir gehören.

Realpolitik wird gemacht von Menschen mit kurzem, oppositionelle und langfristig erfolgreiche Politikkritik lebt von einem langen historischen Gedächtnis. Im zweiten Golfkrieg sollten wir schnell vergessen, daß wir den irakischen Diktator jahrelang aufgerüstet hatten. Kein Krieg und Bürgerkrieg irgendwo in der Welt von gestern und heute, der nicht auch mit deutschen Waffen gekämpft wurde und wird, von Regierungen und ihren Militärapparaten, mit denen wir politische Geschäfte machten und machen. Das gilt auch für die mörderischen Kriegsherren auf dem Balkan. Jetzt werden wir aufgerufen, diejenigen zu entwaffnen, die wir – die internationale Staatengemeinschaft – gestern bewaffnet haben. Und was kommt, selbst wenn es gelänge, danach? Ist es nicht politisch-logisch vorprogrammiert, daß wir die ethnisch gesäuberten Nachfolgestaaten Jugoslawiens auch mit Militärhilfe dann „stabilisieren“, damit sie sich gegenseitig abschrecken können? Wird das nicht die realpolitische Friedenslösung sein? Und wenn schon, und mit Erbitterung hingenommen, mittelfristig nur so das Morden äußerlich beendet werden könnte: Braucht es dazu wirklich deutsche Soldaten? Müßte nicht – schon heute vorzubereiten, vorzudenken, vorzuplanen – der Beitrag einer qualitativ neuen deutschen Außen- und internationalen Politik in der Intervention mit friedlichen Mitteln und Methoden bestehen? Ein ziviles „Friedenscorps“ zum Beispiel, bestehend aus Verwaltungsexperten, Historikern, Ökonomen, Friedensforschern, Theologen, Völkerrechtlern, Ärzten – paritätisch aus Männern und Frauen zusammengesetzt.

Wenn wir uns heute auf den friedenspolitischen Realismus einschwören lassen, blockieren wir nicht nur das Nachdenken über den Tag danach, sondern wir geben einer Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, nicht einmal eine Chance. Schlimm genug, daß – wahrscheinlich – militärisch interveniert werden muß: Aber warum sollte nicht die deutsche Politik einen anderen, den Schritt zum Ausstieg als erste versuchen? Nicht, weil es deutsche Politik ist, sondern weil es die ist, die wir verantworten und die wir darum mitgestalten wollen. Von irgendwem muß doch ein erster Schritt gemacht werden, um aus der Gewaltspirale auszutreten. Hic Rhodos, hic salta! Ekkehart Krippendorff

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